von Domaris
Die Mutter kommt ihre Kinder abholen. Sie durften nach dem Mittagessen eine Stunde bei Oma im Hotel verbringen. Die beiden jüngeren Kinder, zweieinhalb und vier Jahre alte Mädchen, verabschieden sich artig bei ihrer Großmutter und strecken der jungen Frau die Händchen entgegen. „Und was ist mit dir, Brigitte? Kommst du nicht?“, fragt sie nun ihre älteste Tochter, die nächstes Monat 5 Jahre alt wird. „Bitte Mami, darf ich noch bei der Oma bleiben?“, fragt die Kleine bettelnd und rutscht am Schoss ihrer Oma aufgeregt auf und ab, vor sich einen Block, auf den sie Buchstaben kritzelt, die ihr der Vater beigebracht hat. „Bitte, bitte Mami. Nur noch eine halbe Stunde.“
Die Mutter gibt nach, nachdem die Schwiegermutter ihr versichert, die Kleine danach nach Hause zu bringen. Brigitte ist selig. Sie hat wieder einmal ihren Kopf durchgesetzt. Sie sieht ihrer Mutter noch eine Weile nach, ob sie es sich nicht doch wieder anderes überlegt. Aber diese ist mit den beiden kleineren Mädchen beschäftigt, die sie jetzt links und rechts vom Kinderwagen positioniert, in dem der Stammhalter der Familie, gerade erst ein paar Monate alt, liegt.
Das nächste, woran sich Brigitte erinnert ist, dass ihre 12-jährige Cousine ganz aufgeregt vor ihr steht und sie dazu drängt, mit ihr sofort mitzukommen, weil etwas zu Hause passiert sei. Sie hat sich eh schon gewundert, dass sie so lange bleiben durfte, denn draußen wird es langsam dunkel.
Wie in Trance lässt sie sich von der Älteren mit nach Hause ziehen, wo ihre Mutter im Wohnzimmer am Bügelbrett steht, das Bügeleisen in der Hand, das Gesicht tränenüberströmt. Es ist unheimlich still im Haus. Kein Laut dringt aus dem Zimmer der Kinder. Brigitte ahnt, dass etwas überhaupt nicht stimmt, und fragt benommen: „Mami, was ist denn?“
Sie kann sich nicht an die Antwort ihrer Mutter erinnern, auch nicht an das, was in den Tagen danach geschieht. Sie weiß nur, dass ihre jüngste Schwester nicht mehr da ist. Und da ist ihre andere Schwester, die seit Tagen kein Wort mehr spricht.
Ein Begräbnis. Die Tante drückt Brigitte eine weiße Rose in die Hand. Die soll sie in die Grube vor sich werfen, wo ein weißer Sarg liegt. Sie erinnert sich daran, ihre Schwester darin schlafen gesehen zu haben, gestern in dieser Halle, wo rund um das seltsame Bett viele Blumen und Kerzen standen.
Und ihre Mami weint immer noch. Sie weint eigentlich in letzter Zeit immer. Auch ihrem Vater rollen immer wieder stumme Tränen über die Wangen.
Sie versteht nicht, was geschehen ist. Antworten wie „Bea ist jetzt beim lieben Gott im Himmel!“, werfen nur noch mehr Fragen auf, die ihr niemand beantworten will.
Erst Jahre später wird sie begreifen, was wirklich geschehen ist. Sie wird die Zeitungsartikel über den Unfall finden. Der Sohn eines Sommergastes hat ihre kleine Schwester auf dem Privatweg vor dem Elternhaus überfahren, als ihm plötzlich einfällt, dass er etwas vergessen hat, und den Rückwärtsgang seines Autos einlegt. Und dann wird auch sie weinen.
© Domaris 2020-08-12