Der hohe Preis der Vernunft 7/17

Robert J. Hönatsch

von Robert J. Hönatsch

Story

Die Essensgerüche mündeten ins Wohnzimmer hinein. Neville schloss mit einer Hand hinter sich die Tür zur Küche, in der anderen hielt er die angebrochene Weinflasche, die er mit in sein Bürozimmer zu nehmen gedachte. Doch bevor er dort war, musste er den mit imaginären Flatterband abgesperrten Bereich zwischen Fernsehcouch und TV überqueren.

Im Schummerlicht der flackernden Fernsehbilder kreuzte er den starren Blick seiner Tochter. Sie hatte das blonde Haar ihrer Mutter, aber seine traurigen blauen Augen. Marie saß kerzengerade auf der Couch.

Ein so zerbrechliches, liebreizendes Geschöpf, dachte er und überlegte, wie lange er sie schon nicht mehr gesehen hatte.

Sie trug das gepunktete Kleid, knöchellang, am Saum verschmutzt. Trauliche Hände, zerkratzte Beine, kleine Füße; ihre Zehen versteckt im hohen Flor des Wohnzimmerteppichs. Um sie herum lagen noch verstreut ein paar Grashalme und etwas feuchte Erde. Sie starrte wie gebannt auf ihr Lieblingsprogramm.

»Gute Nacht, mein Liebling«, sagte er.

Sie erwiderte nichts.

»Bist du sauer auf mich?«, fragte er.

Sie gab keine Antwort.

Eine Weile stand Neville noch neben dem Fernseher, wusste nicht recht, was er sagen sollte. Überlegte, ob es überhaupt Worte geben konnte, die es besser machen würden.

»Es tut mir leid«, sagte er am Ende, doch sie zeigte immer noch keine Regung. Hatte ihn wohl gar nicht gehört, nicht bemerkt. Wusste sie denn, dass es ihn noch gab?

Das flackernde Fernsehlicht beschattete ihre bleiche Haut, das stumme Gesicht. Sie sah mager aus, kränklich, dachte er noch, als er schon aus der Stube fort war und in sein kleines Bürozimmer im Parterre verschwand.

Auf eine Art kam ihm die Bedachtsamkeit, mit der er den Schlüssel im Zylinder drehte, sonderbar dämlich vor. So als wolle er das Abschließen verheimlichen, weil er sich andernfalls früher oder später dafür rechtfertigen müsste, was er hier trieb. Er hatte Feierabend. Es war sein Haus.

Vielleicht hätte er Zeit mit seiner Familie verbringen sollen, dachte er. Hätte schlafen sollen. Doch stattdessen jagte er ohne Pause einem Serienmörder nach.

Wenn man weiß, dass man den falschen Weg geht, wieso kehrt man dann nicht einfach um?

© Robert J. Hönatsch 2021-07-20

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