von Rebecca Borde
„Das ist nun mal, was die Zeit tut. Sie vergeht und das kann niemand ändern. Das ist etwas Größeres als wir, aber das wirst du noch verstehen“, hast du mir erklärt, als du mir Eddy geschenkt hast. Eddy bedeutet „Beschützer” und weil er das Haus meiner Großeltern eine halbe Ewigkeit bewacht hatte, fand ich, er hatte nach 58 Jahren einen Namen verdient. Eddy war ein kleiner, brauner, geschnitzter Elefant und stand, seit ich denken kann, auf dem Regal im Wohnzimmer meiner Großeltern. In ihm steckt der Zeitgeist eines längst vergangenen Lebens, von dem nicht mehr als eine Handvoll Erinnerungen übriggeblieben sind. Wenn Eddy reden könnte, würde er Geschichten aus einer Welt erzählen, für die unsere Vorstellungskraft nicht annährend ausreicht. Oma hatte ihn von einer Afrikareise Anfang der 60er Jahre mitgebracht und dann stand er 58 Jahre im Haus meiner Großeltern. Dieser Holzelefant hatte gesehen, wie mein Großvater vor Oma 1961 auf die Knie gefallen war, um sie zu fragen, ob sie gemeinsam die Ewigkeit erleben wollen. Ein Jahr später hatte er miterlebt, wie die beiden an einem warmen Sommertag ihre Liebe besiegelten. Eddy war da, als mein Vater und meine Tante geboren wurden. Er hatte gesehen, wie meine Großmutter ihren Eltern den Schwangerschaftstest präsentierte und wie sie einige Monate später eine eigene Familie gründete und wie aus einem Gebäude ein Zuhause wurde. Jedes Weihnachtsfest und jeden Fernsehabend hatte Eddy vom Regal aus beobachtet. Er wusste, wieso mein Vater in seiner Jugend rebellisch wurde und welche Platten meine Tante hörte. Er war immer da, egal wie viel Zeit vergangen war. Nicht mal, als die Liebe meine Großeltern verließ, ist er mitgegangen. Er blieb und sah zu, wie sie immer mehr von Liebenden zu Mitbewohnern und zu Aneinander-Gewöhnten wurden. Vielleicht hat er sich gefreut, als die beiden durch uns Enkel wieder zusammenfanden, falls Holzelefanten so etwas können. Auf jeden Fall sah er drei Generationen aufwachsen und das kann ihm so schnell niemand nachmachen.
Dann sah Eddy, wie mein Großvater krank wurde. Er bekam all die schlaflosen Nächte mit, die mühseligen Tage, die Besuche der Rettungssanitäter, die Wiederbelegungsversuche und dann das Trauergespräch mit dem Pastor. Für einige Jahre sah der kleine braune Elefant die Tränen meiner Großmutter. Er kannte sie am längsten, hatte sie ihr Leben lang von diesem Regal aus begleitet. Jetzt, wo sie auch gegangen ist, sieht er vom Regal aus auf ein leeres Wohnzimmer herab. Die Stille ist unerträglich laut geworden. Er habe niemanden mehr, über den er wachen könne, und deshalb solle er jetzt mir gehören, hast du gesagt. Denn auch wenn die Zeit vergeht, ist dieser kleine Holzelefant immer geblieben. Ein besseres Andenken an meine Großmutter als ihren treuesten Begleiter und Beschützer hätte ich nicht haben können. Und ich wünsche mir nichts mehr, als dass er reden könnte, um mir all die Geschichten zu erzählen, von denen niemand mehr erfahren wird.
© Rebecca Borde 2021-10-01