von Franz Brunner
So glauben Sie mir doch, ich bin’s wirklich. Der in der ersten Reihe, der zweite von rechts, der mit den hochmodischen Stutzen, der bin ich. Einer von 30 Rabauken, die sich an diesem schönen Herbsttag mindestens genauso schön herausgeputzt haben, weil ja der Fotograf für das Klassenfoto angekündigt war. Um ehrlich zu sein haben natürlich die Mütter ordentlich Hand angelegt, um ihre Sprösslinge herzeigbar zu kostümieren. Nur Buben waren wir, keine Mädchen weit und breit. Damals war das hormonell noch überhaupt kein Problem, wir konnten gut ohne diese Hühner aus dem ersten Stock auskommen, dennoch wurde unsere Horde vermutlich aus Sicherheitsgründen eine Etage darüber gehortet. Warum gerade jetzt Jahrzehnte später diese Erinnerungen auftauchen? Das Fernsehprogramm war gestern so ansprechend wie Reizhusten oder ein grippaler Infekt, und so hatte der graue Karton im rechten untersten Eck der Bücherwand leichtes Spiel, nach gemeinsamer Zeit mit mir zu verlangen. Er war schwer und vollgestopft mit intimsten Prunkstücken der analogen Fotografie, die mir eine überaus unterhaltsame Abendstunde verschafften. Doch dann war schlagartig Schluss mit lustig. Dann nämlich, als ich das Foto umdrehte und eine verblasste Jahreszahl mich bedrohlich anstarrte. Nein, ich sag’s nicht, nur so viel sei verraten: 3. Klasse Volksschule. Na ja, zumindest Farbfotos gab’s schon, also befinden wir uns bereits in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Jahreszahl blieb auch nach mehrmaligem Drehen hartnäckig die gleiche, die seltsamen Typen mit den abstehenden Ohren ebenfalls. Lange Haare waren zu jener Zeit kein Thema, keine Möglichkeit, die Lauscher zu verstecken. So standen wir tapfer lächelnd vor dem Fotografen und zwangsläufig zu unseren abstehenden Ohren. Gefühlt zwei Drittel der Knaben waren damit ausgestattet. Gut, dass die Mädchen ein eigenes Stockwerk bewohnten, sie hätten uns wahrscheinlich für diesen anatomischen Makel hemmungslos gackernd gemobbt. Einige von diesen Typen habe ich nach der Volksschule nie wieder gesehen, andere wiederum kämpften sich mit mir sogar durch die Hauptschule, einzelne treffe ich noch heute hin und wieder. Und vier der Rabauken kann ich nicht mehr treffen, weil sie nämlich tot sind. Bei einem epileptischen Anfall vom Balkon gestürzt, sich den goldenen Schuss verpasst, an Lungenkrebs gestorben und mit dem ersten Auto verunglückt. Der mit dem Autounfall war übrigens jener, der mich später tatsächlich eifrig gemobbt hatte. Wegen meiner Ohrenprobleme, wegen einer leichten Schwerhörigkeit, die mich in meiner Kindheit plagte. Ich höre heute wie ein Luchs, lebe noch und bin überdies glücklich. Weil ich gerade Zeit hatte und – wie bereits erwähnt – das Fernsehprogramm grauenhaft war, googelte ich nach Namen. Ja, von den 29 ehemaligen Mitstreitern konnte ich bis auf einen allen zuverlässig den Namen zuordnen. Danke für das Lob, ich bin mit meiner Gedächtnisleistung – wie auch sonst mit mir – sehr zufrieden. Eigenlob? Ja warum denn nicht, denn entgegen der landläufigen Meinung stinkt dieses nicht. Man lobt sich selbst viel zu wenig. Also, junggebliebener reifer Mann, du bist gut so, wie du bist. Weitermachen und dem Leben weiterhin trotzig die Zunge zeigen. Und sch…. doch auf irgendwelche unbedeutenden Jahreszahlen, die machen nicht glücklich und liefern keinen nennenswerten Beitrag zu deinem Wohlbefinden. Da helfen das Vertrauen und die Zuneigung eines liebenden Menschen schon deutlich mehr. Danke dafür und damit bitte unbedingt weitermachen.
© Franz Brunner 2024-01-07