von Marina Machacek
An den, der die Nacht kennt,
ich habe einen Jungen gekannt, der niemals schlief.
Sein Name war Elian, aber die meisten nannten ihn einfach nur „der Wache“.
Nicht, weil er aufmerksam war – sondern weil er die Nacht durchstand, ohne je die Augen zu schließen.
In einer Welt, in der Zeit bedeutungslos geworden war, blieb er wach, Stunde um Stunde, Tag um Tag.
Er sagte, er könne nicht schlafen, weil Träume ihn anlügen würden.
„Im Traum kommt meine Mutter zurück“, flüsterte er mir einmal zu.
„Und wenn ich aufwache, stirbt sie jedes Mal wieder.“
Er war nicht älter als zwölf, vielleicht dreizehn.
Dünn wie ein Schilfrohr, mit Augen, die ständig flackerten, als müsste er jede Bewegung der Welt im Blick behalten.
Wir trafen uns an einem Ort, den keiner mehr bewohnte – ein altes Schulgebäude, in dem noch Kreide an der Tafel klebte.
Elian schlief nie, aber er beobachtete die Träume der anderen.
Er setzte sich neben sie, wenn sie schliefen, und bewachte sie, als wäre er ein Hund, der gegen das Vergessen kämpft.
Ich fragte ihn, ob er nicht müde sei. Er nickte. Aber er sagte, Müdigkeit sei leichter zu ertragen als Enttäuschung. Manchmal, wenn er sehr leise wurde, hörte man ihn singen. Nicht laut – kaum hörbar. Ein Lied ohne Worte.Ich glaube, es war das Einzige, was ihn noch mit sich selbst verband.
Eines Nachts schlief ich ein, während er mir etwas erzählte.
Als ich aufwachte, war er weg.
Ich suchte ihn überall – in den Klassenzimmern, auf dem Dach, zwischen den Trümmern.
Nichts. Keine Spur.
Nur eine Decke lag da, sorgsam gefaltet.
Und darauf – ein Brief.
Nicht an mich.
An irgendwen.
Vielleicht an dich.
„Wenn du das liest, bin ich endlich eingeschlafen.
Nicht, weil ich es wollte.
Sondern weil ich geglaubt habe, dass jemand anderes jetzt aufpasst.“
Ich weinte.
Nicht nur, weil er fort war.
Sondern weil ich zum ersten Mal verstand:
Er war nie wach gewesen, weil er Angst hatte zu schlafen.
Er war wach, weil er uns das Träumen zurückgeben wollte.
Ich habe den Brief hier am Baum gelassen.
Vielleicht liest du ihn in einer schlaflosen Nacht.
Vielleicht erinnerst du dich an Elian –
den Jungen, der nie schlief, damit wir es konnten.
In Dankbarkeit,
die Träumerin
© Marina Machacek 2025-04-25