von Marina Machacek
An den, der mich sucht,
ich weiß nicht, ob du mich jemals finden wirst.
Vielleicht bin ich längst nur ein Gerücht, eine Geschichte, die sich Kinder am Feuer erzählen, wenn der Hunger zu groß wird und das Dunkel zu nah kommt. Aber falls du wirklich suchst – such nach dem Rot.
Rot wie Blut, sagten manche.
Rot wie die letzten Sonnenstrahlen, bevor der Himmel zerbrach. Rot wie Trotz.
Ich war der Junge mit der roten Jacke.
Meine Mutter hatte sie mir genäht, aus alten Decken, Flicken und Bannern. Sie roch nach Rauch, Regen und nach ihrer Umarmung. In einer Welt voller Grau und Staub war ich das einzige Licht, das noch leuchtete, sagte sie. Ich lief durch die Straßen, während Häuser in sich zusammenstürzten. Über Felder, wo rostige Drähte wie Skelette aus der Erde ragten. Die Menschen sahen mich kommen – und sie lächelten. Nicht, weil ich besonders war. Sondern weil ich Hoffnung trug, sichtbar auf meinem Rücken. Sie gaben mir Dinge: ein Stück Brot, eine rostige Flöte, ein zerknittertes Foto. Ich lächelte zurück, als könnte mein Lächeln die Welt reparieren. Auf meiner Jacke sammelten sich ihre Geschichten: Ein Mädchen nähte einen Stern für ihren Bruder. Ein alter Mann stickte ein Ankerzeichen. Eine blinde Frau fädelte ein goldenes Haar ein – ein Versprechen, das nie verblassen sollte.
Ich wurde ein wandelndes Gedächtnis. Ein Stück Hoffnung auf zwei Beinen. Aber Hoffnung wiegt schwer. Sie wiegt mehr als jeder Eimer Asche. An einem Abend, als die Luft nach Metall schmeckte, traf ich eine Gruppe Männer.
Sie sahen meine Jacke.
Sie lachten nicht.
Sie rissen sie mir vom Leib. „Behalt deine Hoffnung“, schrien sie.
Und sie zerfetzten sie, ließen die Fetzen im Wind tanzen wie tote Blätter.
Ich lief. Ohne Jacke. Ohne Geschichten. Ohne Farbe. Manchmal spüre ich den Stoff noch auf meiner Haut. Manchmal träume ich, ich könnte alles zusammennähen. Und dann kam der Tag, an dem ich ihn traf:
Ein anderes Kind. Klein, schmutzig – aber auf seinem Rücken flatterte etwas Rotes. Ein Stück meiner Jacke. Und auf dem Stoff, mit schwarzen Fäden genäht, erkannte ich einen Namen.
Meinen eigenen.
Ich verstand:
Meine Mutter hatte keine Jacke genäht, um mich zu wärmen.
Sie hatte eine Karte erschaffen. Eine Botschaft an die Welt:
Dass ich echt war.
Dass ich Hoffnung war.
Dass ich nicht verschwinden durfte. Und in diesem Moment wusste ich:
Ich war nie der Träger der Geschichten gewesen. Ich war die Geschichte.
Und du, der diesen Brief liest – vielleicht trägst du jetzt auch ein Stück davon.
Für immer,
Der Junge mit der roten Jacke
© Marina Machacek 2025-04-25