Der Junge ohne Schuhe/ das Geheimnis des Hobbits

Joesinlei

von Joesinlei

Story

Es war im letzten Sommerlager. Wir trafen uns vor der Bibliothek, um dann auf den Zug zu gehen. Wir alle hatten Koffer und Zelte dabei und es war ein riesen Durcheinander. Es roch nach Sonnencreme und die Masken klebten an unseren Gesichtern. Wir trugen alle dieselben T-Shirts und obwohl es noch frĂŒh am Morgen war, war die Luft schon aufgewĂ€rmt, wie wenn man einen Backofen vorheizt. Wir hatten alle verschiedene Kleiderstiele trotz der gleichen T-Shirts doch keiner war wirklich speziell: Hose, T-Shirt, Schuhe, das Gleiche wie immer. Bis auf diesen einen Jungen. Er hielt sich nicht an die gewöhnlichen Kleidungsmethoden. Er trug keine Socken und auch keine Schuhe. Weder dort vor der Bibliothek, noch im Bahnhof oder dem Zug und auch beim Hochwandern ĂŒber Stock und Stein nicht. Egal was wir taten und wo wir es taten, er war immer barfuss. Es dauerte nicht lange und er wurde der Hobbit genannt. Nicht vornedurch aber hinter seinem RĂŒcken. Er war ein komischer Junge, fanden sie. Nicht nur, dass er immer barfuß, unterwegs war, er hatte auch die Angewohnheit an den Schuhen, der anderen SchnĂŒffeln zu wollen. Ich hielt mich zurĂŒck. Klar war es ungewöhnlich, was er tat aber ich versuchte schon damals, andere nicht zu verurteilen, solange sie keinem schadeten. Hingegen dem, was die anderen dachten, war er sehr hygienisch. Nie hinterließ er irgendwo eine Dreckspur, ganz im Gegensatz zu den anderen, all denen die sich ĂŒber ihn lustig machten. Sie haben ihn nicht verstanden und werden es nie tun, weil sie ihren Horizont nicht öffnen wollen. Doch ich habe es verstanden. Nicht alles, aber das muss man auch nicht. Man kann auch akzeptieren ohne zu begreifen. Doch ich habe genug verstanden, um ihn nicht fĂŒr komplett durchgeknallt zu halten. Die Natur hat eine Kraft. Man kann sie nicht packen und auch nicht sehen, doch sie ist da. Und er hat diese Kraft gespĂŒrt und wollte ihr nahe sein. Er hat sich mit dieser Kraft verbunden, hat seinen Körper mit der Erde verbunden. Schuhe und Socken schirmen uns ab von dieser ruhenden Stille, die fĂŒr jeden da ist und dennoch allen verborgen bleibt. Doch ihm nicht. Er hat seinen Weg gefunden zumindest einen winzigen Teil davon umzuleiten und durch sich fliessen zu lassen. Das war sein Geheimnis. Das Geheimnis des Hobbits. Und ab da tat ich es auch. Nicht durchgehend, da mir nicht egal war, was die anderen ĂŒber mich dachten und weil meine FĂŒsse nicht genug abgehĂ€rtet waren. Aber manchmal, wenn ich mich kraftlos oder von meinen eigenen Stimmen bedrĂ€ngt fĂŒhlte, dann ging ich auf das Feld hinaus, schlĂŒpfte aus meinen Schuhen und zog meine Socken aus. Und dann verband ich mich mit der alten, ewig wĂ€hrenden Kraft des Seins. Mit geschlossenen Augen sass ich dann dort, die HandflĂ€chen und die Fusssohlen gegen die Erde drĂŒckend und liess die Energie durch mich hindurchfliessen. Und dann liess ich mich von ihr leiten, der Natur. Ich wurde vom Wind getragen, der mich herumtanzen liess und spĂŒrte die ruhige, ewige Stille der Erde in mir aufkommen.

© Joesinlei 2021-04-25

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