von Lukas Emberger
In der Sonne glĂ€nzend, aber schon etwas verwildert, ragt das Kruzifix aus dem Erdboden. Es erinnert an ein Ereignis, welches man diesem unscheinbaren Ort nicht zutrauen wĂŒrde. Und doch war es die traurige Fortsetzung einer Reihe von Katastrophen an dieser Stelle. Gleich neben dem Kreuz ist in kringeliger Schrift auf einer Gedenktafel zu entziffern: âAnna – wir vermissen dichâ. Anna – jene Frau, die auf diesen hĂ€sslichen, grauen Gleisen ihren Kampf verloren hat – den Kampf gegen sich selbst und den Kampf gegen den Suizid. Mit dieser Niederlage beginnt auch mein Kampf. Denn die Frau ist nicht âeineâ, sondern âdieâ Anna – meine ehemalige Schulkollegin.
Auch ich kenne nÀmlich diesen Kampf. Anna ist bereits die zweite Person aus meinem Umfeld, die diesen Weg gegangen ist. Und mit jeder weiteren Person gewinnt mein ganz persönlicher Disput an HÀrte.
Angst, Zweifel, Reue, Hilflosigkeit – alles GefĂŒhle, die ich schon mal therapeutisch in die Schranken gewiesen habe. Damit geht es mir gut. Aber mit jedem Verlust werden die bösen Geister wieder genĂ€hrt. GestĂ€rkt davon werden ihre Argumente in meinem inneren Konflikt scheinbar immer logischer.
Wie verloren ist unsere Gesellschaft, wenn sie junge Frauen in der BlĂŒte ihres Lebens in den Tod treibt?
Lohnt es sich zu kÀmpfen, wenn auch nach einem langen Leben der Tod ohnehin unausweichlich ist?
Worin liegt der Sinn der Endlosschleife von neuem Leben und dem, frĂŒher oder spĂ€ter, darauf folgenden Tod?
Jede dieser Fragen pikst wie der Stachel einer Wespe in meiner Seele. Ich schwelge in meinen Erinnerungen und lande in der Zeit, als mich solche Ereignisse ebenfalls noch in eine lebensgefĂ€hrliche Situation gebracht haben. Und obwohl ich auch jetzt in dieses Gedankenkonstrukt hineingezogen werde, ziehen mich meine positiven Erfahrungen wieder hinaus. Es wirkt wie ein Tauziehen, bei dem die gute Seite langsam an Ăberhand gewinnt. Diese gute Seite wird getrieben durch jede noch so kleine, schöner Erinnerung. Meine kleine Nichte, die Schritt fĂŒr Schritt die Welt von ihrer schönen Seite entdeckt. Das LĂ€cheln einer Freundin, die sich ĂŒber ein Kompliment von mir freut. Oder auch meine Katze, wie sie neugierig durchs Leben tappt und alles erforscht, genau so, wie ich es gerne öfter machen wĂŒrde.
Sind dadurch meine Probleme verschwunden? Nein. Dennoch ist es unheimlich wichtig, sich ein Repertoire an positiven Treibern anzulegen. Sozusagen als Hebel fĂŒr die âguteâ Seite. Ich werde ihn brauchen – spĂ€testens wenn es wieder in eine neue Runde geht – im Kampf gegen mich selbst.
© Lukas Emberger 2022-08-15