von Hanspeter Gsell
Heute Morgen hat die ARANUI die Marquesas-Inseln erreicht. Erster Halt: Taiohae auf der Insel Nuku Hiva. Wir setzten uns beim Pier in ein kleines Bistro und schauten den Fischern zu, wie sie ihren Fang an Land brachten, die Fische putzten und in handliche Stücke schnitten. Die nicht brauchbaren Teile schmissen sie gleich wieder zurück ins Wasser: ein wahres Festmahl für ein Dutzend Zitronenhaie!
Der Kaffee im Bistro war frisch, dazu gab’s gratis Bananen so viel man wollte. Und einen kostenlosen Zugang zum Internet! Ich wollte heute der Redaktion endlich meinen Bericht über das Leben eines alten Häuptlings und Kannibalen übermitteln. Als ich meine Mail aufgesetzt hatte, kam die Technik gewaltig ins Stottern. Die Buchstaben versuchten, sich einer nach dem andern ins unsichtbare Kabel zu schleichen und ihren Weg zum nächsten Satelliten zu suchen.
Es gelang nicht allen, beim Satz «Atotupo Hakama-newa-ta-Tikimaniana – Mein Leben als Kannibale», war Schluss. Ich beschloss, Nuku Hiva zu den glücklichen Inseln dieser Welt zu zählen.
Dank der gewonnenen Zeit konnte ich mich nun den existentiellen Fragen des Lebens zuwenden. Warum zum Beispiel hat man auf den Marquesas-Inseln im Vergleich zu Tahiti die Uhren um eine halbe Stunde vorgestellt? Nicht eine Stunde, nein, 30 Minuten mussten es sein! Als ob die normalen Zeitunterschiede mein Leben als Reisender nicht schon genügend erschweren würden!
Heute mach ich mich auf mit meiner Frau, sowie einer gewissen Frau Schmitz aus Berlin, den Dschungel von Nuku Hiva zu erobern. Wir folgen dem angeblichen Fluchtweg von Herman Melville (Moby Dick), besuchen alte Tempelanlagen und Opferstätten, werden wiederholt Zeugen ritueller Tänze und kriegerischer Gesänge. Uralte Banyan-Bäume, moosbewachsene Petroglyphen und von Nebel behangene, spitze Basaltfelsen scheinen eine perfekte Kulisse für eine Fortsetzung des Dino-Klamauks Jurassic Park zu sein.
Frau Schmitz hingegen interessiert sich eher für den «Kannibalen von Nuku Hiva», der vor einiger Zeit laut Bild-Zeitung einen deutschen Touristen aufgefressen haben soll. Sie erschauert leicht, als uns der Führer das Inselgefängnis zeigt und bemerkt, die Gefangenen würden jeden Morgen entlassen und erst bei Sonnenuntergang wieder eingeschlossen. Sie müsse sich dennoch keine Gedanken machen, der Menschenfresser sitze nämlich auf Tahiti ein. Und – die Geschichte sei sowieso erstunken und erlogen. Aufgefressen worden sei niemand, der Deutsche mutmaßlich schwul gewesen, respektive der Einheimische. Und ob jemand, wenn denn überhaupt, vergewaltigt worden sei, liege genauso im Dunkeln.
Dieses Dunkel kommt mir gut gelegen, diese Geschichte zu verlassen und wir setzen auf die ARANUI über. Dort ruhen wir uns vom aufregenden Tagwerk aus, träumen ein wenig und genehmigen uns ab und zu einen Drink.
© Hanspeter Gsell 2021-03-16