Der Keimling

Anne Großmann

von Anne Großmann

Story
Carcassonne

“Wie hat es sich angefühlt?”

“Nichts fühlt sich wie etwas anderes an.”

Mein Körper wäre heute 62 geworden. Damit bin ich weit älter, als es meine Eltern je gewesen wären. Man kann sich bei diesem wundersamen Besuch auf diesem wundersamen Planeten selten aussuchen, welche Erfahrungen ein jeder machen muss und welche nie wirklich notwendig gewesen wären. Und doch kann ich auf ein Leben zurückschauen, in dem ich zu gleichen Teilen Leid und Schmerz, aber auch dieses überwältigende Gefühl reiner, purer und endloser Liebe spüren durfte. Wenn ich jetzt noch die Chance hätte, von diesem außerordentlichen Leben zu erzählen, so würde ich mit einem Blumentopf anfangen.



CARCASSONNE 1961

An seine eigene Geburt kann sich niemand erinnern, aber wenigstens eine Person wird an diesen Moment ein Leben lang denken. Ich wurde am 3. Juli geboren, 78 Jahre nach Franz Kafka. Meine Mutter erzählte die Geschichte meiner Geburt jedem, ob er sie nun hören möchte oder nicht. Somit wurde ich an jedem meiner Geburtstage dran erinnert, wie ich bis zum Tag meiner Geburt nicht geplant war. Dieser Tag hatte etwas von Rauch, den man mit bloßen Händen zu fangen versuchte. Der Mann, den sie meinetwegen heiratete, mein Vater, wurde nach seinem Vater benannt, welcher nach seinem benannt wurde. Drei Generationen von Einzelkindern, die den außerordentlich schlicht-schönen Namen Éric Durant tragen durften. Der dritte Éric war ein sehr hochgewachsener und gepflegter Mann. Meine Mutter wird später sagen, dass dies auch schon seine besten Züge waren. Er wächst in Carcassonne auf und er wird sein Leben lang dort bleiben. Jahre später erst würde ich verstehen, weshalb mein Vater uns damals verließ. Er erbte den Blumen laden seines Vaters, Éric dem zweiten. So verbrachte ich, bis ich zwölf wurde, jeden meiner Tage im Rêves De Jardin, umgeben von Gottes Spielereien. Die tausend Farben dieser Blumen, die endlosen Gerüche jeder einzelnen, werden mich ein Leben lang an ihn erinnern. Mein Vater war in meinen Augen der schönste Mann der Welt. Er war so groß, dass er den Kopf immer etwas schräg halten musste, wenn der durch die Tür des Ladens ging. Seine Hände waren so riesig, dass er die blaue Schere, mit der er die Stiele der Blumen abschnitt, nur mit den Fingerspitzen halten konnte. Er hatte diese lustigen Augen, die so viele Lachfalten hatten, dass sie wie Sonnenstrahlen aussahen und gleichzeitig so blau waren, wie die Dordogne selbst. Er hatte, immer Erde unter den Fingernägeln, auch wenn er nicht arbeitete und er trug eine kleine goldene Brille mit sehr runden Gläsern, die am Abend kleine Abdrücke auf der Nase hinterließ. 




© Anne Großmann 2023-05-26

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Abenteuerlich, Emotional, Inspirierend, Traurig