von L_J_Replaceable
Schon immer war er anders gewesen. Kleiner. Schmächtiger. Ängstlicher.
Schon immer war er nicht wie die anderen Drachen gewesen. All die Anderen waren größer, konnten fliegen und Feuer spucken. Sie waren Gelb. Er war grau. Er konnte nicht fliegen, weil seine Flügel zu schwer waren. Er hatte viel mehr Angst, als die Größeren und hatte keine Freude daran, die Menschen zu verschrecken.
Da gab es Rior – er war der Größte und Gefährlichste.
Silja – sie war die Schönste und ihr Feuer das Gewaltigste.
Nilam – sie war die mit den größten Schwingen.
Bal – er war der Lauteste und Schnellste.
Und dann gab es da ihn. Drago. Er war der Kleinste. Seine Mutter hatte schon die Befürchtung, er wäre zu schwach zum Schlüpfen gewesen. Schon damals war das Leben für ihn ein Kampf und als es an die Prüfungen ging, die beweisen sollten, welch stattlicher Drache er ist, fiel er durch. Sie lachten ihn aus. Gaben ihm gemeine Spitznamen und hänselten ihn. Sein Nest war nicht oben in den Spitzen der Berge, weit über den Wolken. Sein Nest war unten auf dem Boden, zwischen Blumen und Sträuchern, versteckt und einsam. Wenn sie sich Nachts zurückzogen, war er alleine. Traurig sah er sich Nacht für Nacht, die Sterne an und schreckte zusammen, wenn irgendwo ein Ast knackte.
Drago ist nicht wie die Anderen. Das bemerkte er schon früh. Tagsüber flogen sie umher, spielten Spiele und spuckten Flammen. Flammen vor denen er sich fürchtete. Es tat ihm weh, nicht genug für die anderen Drachen zu sein und so schlich er sich eines Nachts davon. Niemand bemerkte es, denn keiner sah zu Boden. Keiner beachtete das leere Nest zwischen all den Sträuchern und Ästen.
Nah bei seinem Nest gab es eine Klippe. Hoch und anmutig, der Wind peitschte gegen Dragos Gesicht, als er sich an den Rand stellte und die Flügel spreizte.
So muss sich Fliegen anfühlen – dachte er sich und schloss die Augen. Dann, wenn er hier war, war er wie all die Anderen. Er flog in seinen Gedanken, über all ihre Köpfe hinweg und lachte, machte Purzelbäume in der Luft und jagte die Fliegen. Doch sobald er die blauen Augen wieder öffnete, war er wieder der Alte, Schwache. Tränen rollten über seine schuppigen Wangen und er sah traurig auf das Meer hinab. Vor dem Meer hatte er keine Angst. Vor dem Meer fürchtete er sich nicht, nicht vor den tosenden Wellen, nicht vor den dunklen Abgründen darunter. Wenn er hier war, war er glücklich. Wenn er hier war, war er ein ganzer Drache. Dem Meer war es egal, ob er Feuer spucken konnte oder nicht. Es war dem Meer auch egal, ob er fliegen konnte. Das Meer hingegen schickte ihm sogar den Wind, der ihn im Stehen fliegen ließ. Drago liebte das Meer. Und das Meer liebte Drago.
© L_J_Replaceable 2024-09-18