Der kleine Engel erhält einen Namen

Christa Weißmayer

von Christa Weißmayer

Story
Himmel

Traurig saß der kleine Engel Namenlos wieder einmal auf seiner geliebten Wolke. Seitdem er seinen Ferialjob in der Himmelsbibliothek beendet hatte, war im total langweilig. Die Schule war fad und auch sonst war nicht wirklich viel los im hinteren Himmelsgewölbe. Fast allen anderen Schulkameraden wurde schon längst eine Aufgabe für die Weihnachtsferien zugeteilt. Einige durften sogar wieder auf die Erde zu den Menschenkindern fliegen. Namenlos wollte unbedingt auch irgendjemandem helfen, eine gewisse Bedeutung erlangen. Bevor er endgültig der Trübsal verfiel, beschloss er, einem der Erzengel sein Anliegen vorzutragen. Mutig flog er zu den auserwählten Cherubim und Seraphim, die ganz nah bei Gott wohnten. Er landete dicht vor dem großen Schwert des Erzengels Michael. Schüchtern zupfte er ihn am weißen Seidenkleid und bat um Erlaubnis, den Menschen ebenso zu helfen wie seine Kameraden. Der Erzengel Michael zögerte ein wenig und meinte, es gäbe nur noch eine besonders schwierige Aufgabe, die bisher noch keiner der Engel übernehmen wollte.
Namenlos freute sich euphorisch und rief: „Ich mach’s, ich mach’s“.
Der Erzengel Michael erzählte von einer immer noch nicht ganz überwundenen Viruskrankheit, von großen Dürren und Hungersnöten, von schweren Unwettern und Überflutungen und von Kriegen auf der Erde. Die Menschen plagen Zukunftsängste und Sorgen. Sie können oft nicht mehr gut schlafen. Er fragte den kleinen Engel nach einer Idee, was man hier wohl machen könnte. Namenlos überlegte kurz und antwortete, es sei ja ganz einfach. Man müsse nur still die Hand des anderen halten, so wie er es bei seinen Freunden tut, wenn es denen schlecht geht. Bevor der Erzengel Michael seine Bedenken äußern konnte, begab sich Namenlos schon auf seine Reise Richtung Erde.

Ein paar skeptische Engel zwitscherten Gott vom kleinen Engel mit der großen Mission so vielfältige Probleme zu lösen. Gott zitierte umgehend den Erzengel Michael zu sich, um zu erfahren, was dieser sich wohl gedacht hatte, einen so jungen Engel, der nicht einmal durch geschlossene Türen fliegen konnte, mit dieser Aufgabe zu betrauen. Er fragte, ob nicht die vielen klugen Köpfe, die hervorragenden Wissenschaftlerinnen, Spezialisten und Ärztinnen, die er den Menschen gesandt hatte, reichten. Müsse er nach 2000 Jahren schon wieder seinen Sohn Jesus bemühen und ihn auf die Erde schicken, um den Menschen Hoffnung zu schenken? Der Erzengel Michael stotterte eine Erklärung, die Gott vehement vom Tisch fegte. Er wollte den kleinen Engel selbst befragen.
Namenlos flog raschen Flügelschlags in den Himmel und plumpste etwas unsanft vor Gottes goldenen Thron. Ehrfürchtig berichtete er von seinem Tun. Wenn man die Hand eines Menschenkindes hält, wird es diesem ganz warm ums Herz. Es fühlt sich angenommen und verstanden. Das hilft immer.
Gott war wegen dieser simplen Erklärung verwundert, allein, es fehlte ihm der Glaube. Daraufhin nahm Namenlos zaghaft die große Hand des Allmächtigen in die seine. Nach einer Weile meinte Gott, jetzt verstehe er, wie gut das tut. Zum Dank erhielt der kleine Engel von Gott höchstpersönlich den Namen: „Tut mir gut“.
„Aber jetzt sag noch, wie gelangst du in die Häuser der Menschen?“, fragte Gott.
„Na ja, die Fenster müssen sie schon selber öffnen“, antwortete Engelchen Tutmirgut.

© Christa Weißmayer 2021-12-22

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Komisch, Hoffnungsvoll, Inspirierend, Unbeschwert, Entspannend
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