Der kleine Gentleman

KayNorden

von KayNorden

Story

Ich legte den Kopf schief und betrachtete den kleinen Jungen genauer. Er saß auf einer Bank auf der anderen Straßenseite, in eine übergroße Jacke gehüllt und sah beinebaumelnd auf seine gefalteten Hände hinunter. Keiner achtete auf ihn. Sah ihn denn niemand?

Plötzlich blickte der Junge hoch und fixierte mich. Meine Füße machten sich selbstständig und ich überquerte die Straße. Der kleine Junge sah mir direkt in die Augen, als ich mich zögerlich neben ihn setzte.

„Na, kleiner Gentleman?“ fragte ich ihn. „Was machst du denn hier ganz alleine?“ Er sagte nichts, hob stattdessen eine Hand und zeigte auf der Straße umher. „Wartest du auf jemanden?“ Er schüttelte den Kopf und wiederholte die Handbewegung. „Beobachtest du die Menschen?“ Er nickte und sah dann wieder zu mir. Keine Emotion spiegelte sich auf seinem Gesicht wieder, da war nur dieser sehr wachsame Blick. Ich wurde nervös. Was tat der Kleine hier? Hatte ihn jemand zurückgelassen? Vertrieb er sich nur hier seine Zeit, anstatt auf einem Spielplatz? Ein Kind unter so vielen Erwachsenen hier? „Kann ich dir irgendwie helfen?“ unterbrach ich meine Gedanken. Der Junge schwieg weiterhin, sah wieder auf seine gefalteten Hände. Wäre es komisch, wenn ich ihn wieder allein ließ? Doch der Junge beachtete mich nicht weiterhin und so erhob ich mich wieder langsam und entfernte mich langsam von der Bank.

„Warte! Warte bitte!“ Eilige, kleine Schritte näherten sich von hinten. Überrascht wirbelte ich wieder herum und fand mich dem kleinen Jungen gegenüber, der mich entschuldigend ansah. „Ich musste leider solange überlegen, aber ich habe beschlossen, dass du ein guter Mensch bist.“ Meine Mundwinkel zuckten unwillkürlich und ging in die Hocke, um mit ihm auf Augenhöhe zu sein.

„Ach ja?“ Er nickte eifrig. „Warum bist du dir da so sicher?“

„Ganz einfach.“ Er deutete auf die Menschen um uns herum. „Ich habe fünf Menschen heute gefragt, ob sie mich kurz umarmen könnten. Der Erste hat mich nur komisch angeschaut, zwei haben so getan, als ob ich gar nicht da wäre! Und die letzten haben gesagt, sie hätten keine Zeit und ich sollte lieber über meine Zukunft nachdenken. Keiner von ihnen hat mich wirklich wahrgenommen. Außer du.“ Er holte tief Luft. „Deswegen wollte ich fragen, ob du mich in den Arm nehmen kannst. Nur ganz kurz, es tut nicht weh.“ Ich lachte auf und breitete die Arme aus. Ganz sanft legte der Junge seine Arme um meinen Hals, dabei strichen seine Finger vorsichtig über meine Haare. „Die Welt ist oft so dunkel und die Menschen wandeln blind in ihrem Schatten.“ Er löste sich von mir. „Ich wünsche mir, dass du stark bleibst und dein Licht bewahrst.“

Perplex sah ich ihn an und wurde es umso mehr, als er sich vorbeugte und mir zwei schnelle Wangenküsschen gab. Ich blinzelte. Er lächelte, trat einen Schritt zurück, knickste kurz und war im nächsten Moment verschwunden. Und ich hockte in der Menschenmenge, die zu beschäftigt war, um sich über meine Haltung zu wundern.

© KayNorden 2022-06-08

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