von Marianne Gröschl
Ich habe dich gesehen. Für einen Augenblick nur ein Punkt zwischen mir und dem Schneegestöber, warmem Zimmer und kaltem Winter.
Während ich noch schlaftrunken meinen Quittentee trank, wanderte mein Blick zum selbigen Baum im Garten. Die Früchte vom Herbst dufteten im ganzen Haus. Jetzt war Winter, es stöberte vor meinem Fenster und plötzlich ein winziger schwarzer Punkt, der sich von unsichtbarerem Faden gehalten hin und her bewegte. Ich stand auf und identifiziert eine kleine Spinne, die in der eisigen Kälte am seidigen Faden hing.
Als Kind ging ich in meinem Dorf gemeinsam mit Freundin Christa auf Weberknecht Jagd. Du hast gleich ein Bild vor Augen, mit Mord und Totschlag? Oh nein, das Gegenteil ist der Fall. Das Motto der Jagd war: Wer findet den Weberknecht mit den längsten Beinen! Heute, mein geliebtes Enkelkind, wärst du mit Handy auf Fotosafari. Damals brauchten wir nur unsere Augen und gegenseitige Bestätigung der realen Entdeckung. Wir suchten in jeder Nische, kletterten auf Holzleitern, um die unerreichbaren Hausecken und deren kleinen Bewohner zu entdecken. War dies der Fall, schrie eine von uns: „Komm, schau da ist ein riesiger Weberknecht.“ Tatsächlich saß vor uns ein grau-brauner Punkt mit langen, wippenden Beinen. Ein Blick genügte, ja, deiner ist größer als meiner. Der Schauer, welcher Gänsehaut auslöst danach das wohlige Gefühl des Sieges, war der Gewinn bei diesem Spiel.
Kennst du das Gefühl von Angst und Neugierde? Eine Kombination die bei mir sehr früh Forscher- und Entdeckerinnengeist geweckt hat. Stellst du dich einer Angst, erlangst du neues Wissen entwickelst Gefühle wie Mut, Zuversicht und Empathie. Dieses Mitgefühl packte mich heute Morgens. Der lebendige Punkt war bei genauerer Betrachtung eine kleine Zitterspinne. Dieser Winzling baut mittels Spinndrüsen ausgedehnte Netze, die wie kleine Baldachine wirken. Kopfüberhängend bringt er seinen Körper und das Netz zum Schwingen, verwirrt Feinde und macht es diesen schwerer ihn anzugreifen. Was machte dieses Verwirrmanöver nötig? Wollte es wegen der Kälte ins Haus übersiedeln? Ich gebe zu, dies würde mir nicht gefallen. Überhaupt nicht empathisch würdest du sagen. Ich gebe dir recht! Dabei sind sie nützlich. Sie vertilgen auch im Haus Fliegen, Mücken und ungeliebte Käfer.
Ein wichtiger Punkt. Dieser lebendige Punkt löste Erinnerungen an die Kindheit aus, aber auch die Bewusstheit, wie wichtig jedes kleinste Teilchen im Universum ist. Ein ewiger Kreislauf. Verzweiflung packt mich, ob der unübersehbaren Veränderungen unserer Erde und der Ignoranz mancher Mitmenschen darüber. Ich bräuchte Spinnenkräfte. So könnte ich jene Ausbeuter mit meinen Spinnfäden festhalten und bewusst machen, dass nur in der Antarktis keine Spinnen leben können. Möchtet ihr dorthin auswandern? Während dessen gönnen wir unser aller Umwelt Ruhe und Regeneration.
Damit du alle Tiere und Pflanzen entdecken kannst, die deine Oma auch schon gekannt hat.
© Marianne Gröschl 2023-01-21