Der Koffer

Barbara Prinz

von Barbara Prinz

Story

Es war so weit. Ich hatte gepackt. Ich atmete einmal tief durch, nahm meinen Koffer und meinen Rucksack und öffnete die TĂŒre. Ohne mich umzublicken verließ ich mein Elternhaus. Wohin ich wollte, wusste ich lĂ€ngst. Geplant hatte ich es nicht. Dieses Mal folgte ich meinem inneren GefĂŒhl. Ich brauchte Freiheit. Luft. Raum.

„Besuche einmal im Jahr einen Ort, den Du noch nicht kennst“, sagte Dalai Lama. Ich sehnte mich nach einem anderen Flecken Erde. Und dort wĂŒrde ich bleiben. Ich folgte meinem Ruf. In mir war der Wunsch nach neuen Menschen. Und ich wollte meinen Freund um mich. Als hĂ€tte er geahnt, dass ich aus der Enge, aus der Begrenzung in meinem Elternhaus ausbrechen wĂŒrde, steckte er mir Tage zuvor seine ErsatzschlĂŒssel zur kleinen Altbauwohnung zu.

„Wann auch immer Du mich besuchen magst, komm!“, war sein Kommentar, „ich freue mich auf Dich!“ Weit war ich noch nicht gelaufen. Plötzlich sah ich meine Großmutter. Sie bremste sich vor mir ein und stieg vom Rad. Sie kam wohl aus der Stadt, vom Markt. Sie hatte rechts und links 2 Taschen mit Lebensmitteln auf der Lenkstange. Sie sah mich an. Den Koffer in meiner Hand ignorierte sie. Stille. Sie blickte mir in die Augen. Ich sagte kein Wort, verlegen senkte ich meinen Kopf und kaute auf meiner Unterlippe.

„Du gehst“, stellte sie fest. „Ich verstehe Dich!“, flĂŒsterte sie und streichelte sanft meine Wange. Diese BerĂŒhrung öffnete die Schleusen, sofort rannen mir TrĂ€nen ĂŒber die Wangen und ich wischte sie nicht einmal weg. Ich fĂŒhlte mich so einsam und gleichzeitig so geliebt.

„Komm!“, ich begleite Dich ein StĂŒck, sagte meine Oma leise, nahm mir den Koffer aus der Hand und stellte ihn hinten auf den GepĂ€cktrĂ€ger. Ich ĂŒbernahm den Lenker des Fahrrades und wendete. Wir hatten alle HĂ€nde zu tun, um das Gewicht des GepĂ€cks auszubalancieren, aber es war doch noch ein weites StĂŒck zum Bahnhof. Die Bewegung, das Schieben des Rades und das Gehen bekam mir gut. Ich war nicht alleine, die Anwesenheit meiner Großmutter gab mir Halt. Am Bahnhof besorgte ich mir eine Karte nach Wien. Ohne RĂŒckfahrtticket. Ich brauchte erst mal Abstand und Zeit. Um zu ĂŒberlegen, wie es weitergehen wĂŒrde. Die Ă€ltere Frau stand neben mir und verlor kein Wort ĂŒber mein Fortgehen. Sie sah mich nur stumm an, ihr Blick war klar, wissend.

Mir war bewusst, dass ich nicht auf diese Art gehen sollte. Ohne ErklĂ€rung. Ohne Abschied. Und dennoch fand ich keine passenden Worte. Manchmal konnte ich meinen Redefluss nicht stoppen, an anderen Tagen, wie damals – war ich still. Soviel hĂ€tte ich ansprechen und aussprechen können, zu schweigen schien mir in dem Moment die bessere Antwort auf alle offenen Fragen meiner selbst zu sein.

Als ich in den Zug einstieg, hielt meine Oma mich einen Moment zurĂŒck, sie zögerte, dann liess sie mich los und sagte: “Pass gut auf Dich auf, schreib mir Deine neue Adresse! Ich besuch Dich!“, versprach sie mir. Die TĂŒren des Zugabteils fielen zu. Ich war am Weg in meine neue Zukunft. Dem Ziel Freiheit so nah.

© Barbara Prinz 2019-09-13