Der Kraftbaum

awe

von awe

Story

Seit 200 Jahren steht ein besonderer Baum in einer der schönsten Parkanlagen Wiens. Sein knorriger Stamm ragt weit in die Höhe und ist von Efeu umschlungen. Im Sommer findet man unter seiner mächtigen Baumkrone einen lauschigen Schattenplatz. Am Boden breitet sich der Stamm nach links und rechts aus und bietet eine natürliche Sitzgelegenheit. Es scheint als hätte ihn der Blitz getroffen. Oft sitze ich in der Abendsonne an den Baum gelehnt und spüre die Energie, die er aussendet. Manchmal überlege ich mir, was der Baum wohl zu erzählen hätte, wenn er reden könnte. Schließlich sind 200 Jahre kein Pappenstiel. Welchen Stürmen und Naturgewalten war er ausgesetzt? Den einen und anderen Krieg hat er überlebt. Trotzdem steht er noch da. An Tagen der inneren Zerrissenheit gibt er mir die Kraft wieder ins seelische Gleichgewicht zu kommen.

An einem lauen Sommerabend machte ich es mir wieder einmal bei dem Baum gemütlich. Ich fühlte mich so geborgen unter dem grünen Blätterdach, dass ich einfach einschlief.

Plötzlich hörte ich ein lautes Grollen über mir. Es war Nacht und der Himmel war schwarz. Ein heftiger Windstoß drohte mich wegzuwehen. Doch ich spürte, wie tief ich mit der Erde verwurzelt war. Auf einmal wurde es hell. Blitze machten die Nacht, für einen kurzen Augenblick, zum Tag. Ich sah an mir herab. Da bemerkte ich, dass ein Teil meines Körpers gebrochen war. Aber ich fühlte keinen Schmerz. Auf wundersame Weise umhüllte ein harziger Saft sofort meine Wunde. Ich war mir bewusst, dass die Zeit alle Wunden heilen würde und blieb entspannt stehen. Dann sah ich, wie die Zeit an mir vorüberlief. Ich sah lachende und weinende Menschen, die an meiner Seite ruhten. Sie fanden Halt und Schutz bei mir. Dabei stand ich einfach nur hier. Ich sah den Wandel der Mode, der Sprache und dem Verhalten der Menschen in den letzten hundert Jahren. Doch ihre Herzenswünsche haben sich bis heute nicht verändert. Unerwartet hörte ich eine vertraute Stimme. Sie kam tief aus meinem Herzen und sprach zu mir: „Schau dich an, wie alt du geworden bist. Du hast schöne und weniger schöne Zeiten erlebt. Du bist an allem gewachsen, denn du stehst noch immer hier.“

Als ich erwachte, war die Sonne schon untergegangen. Ich dachte an diesen seltsamen Traum. Langsam wurde mir klar. In meinem Traum war ich dieser Baum. Auf einmal verstand ich, wie stark wir Menschen mit der Natur verbunden sind. Ich fühlte mich unendlich kraftvoll und war dankbar für diesen Traum. An diesem Abend saß ich lange an dieser Stelle, bis der Mond schien helle.

© awe 2021-05-23