Der Künstler und die Schriftstellerin

I Firch

von I Firch

Story
Rom

Ich musste zu dem Brunnen. Vielleicht wartete sie auf mich, vielleicht hoffte sie mich zu treffen, wie ich sie hoffte zu treffen. Meine Beine taten, was sie tun musste, ich musste sie sehen, ein letztes Mal ihre grazile Gestalt sehen, den langen Hals, die wallende Mähne, die kurzen geblümten Kleider und ihr niederländischer Akzent, für den sie sich so schämte. 

Sie durfte nicht einfach fort sein, das ging so nicht, wir waren nicht in einer griechischen Tragödie, wo Götter schadenfroh auf die Menschen schauten und nichts mit ihrer ewig währenden Lebenszeit anfangen konnten. Sie höhnten bestimmt. Schaut euch das an!  
Und Aphrodite würde uns bemitleiden, uns noch ein Wiedersehen gönnen, um der Tragödie ihren letzten Schliff zu geben. Die Nachtluft zog mit einer kühlen Wärme an mir vorbei, Mücken und Moskitos starrten mir irritiert hinterher und die wenigen, die es versuchten mit mir aufzunehmen, wurden von meinen Sandalen zerdrückt.  

Der Brunnen, der volle silbern glänzende Mond. Flatternde Röcke und große elegante Schleifen, Haarreifen mit falschen Perlen. Ihre Erscheinung wuchs himmlisch schnell, wurde detailreicher, wie im Laufe des Erschaffens eines Kunstwerkes. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, meine Hände wollten nicht stillhalten. Ein Kribbeln durchfuhr mich und meine Mimik zuckte unschlüssig. Sollte ich weinen oder sollte ich lachen? Ich war erleichtert, doch die Wut und die Trauer überwogen in mir.  
Kaum war ich bei ihr, rutschte es mir heraus: “Warum hast du mich verlassen?” 
Ohne Erklärung aus meinen Leben zu verschwinden, ohne Verabschiedung, solche Trugbilder existierten in der Realität nicht.  
Sie schüttelte ihren hübschen Kopf. Keine Erklärung, also. In meinen Kopf bannten sich unzusammenhängende Sätze an. Ich fluchte auf sie und auf mich.
“Ich werde Rom verlassen.” 
“Was?” Ungläubig starrte ich sie an. Noch während sie aussprach, wovor ich mich ganze Zeit gefürchtet hatte, schossen mir Tränen in meine müden zerriebenen Augen. Sicher hatte sie nicht die Mittel, um ihr Leben mit mir zu verbringen, vielleicht hatte sie das Studium abgebrochen oder sie war nur für ein Semester hier. Trotzdem konnte ich mir nicht zusammenreimen, warum sie in den letzten Wochen nicht mehr bei mir aufgetaucht war. 
“Meine Eltern haben mir einen Mann ausgesucht.” 
Mich also nicht? Einen anderen?
“Es ist eine Tradition”, erklärte sie, wovon ich nichts hielt. “Ich liebe ihn nicht, ich kenne ihn nicht.“ In ihrer Stimme waren ebenfalls Tränen zu hören. Sie brach, als sie mir versprach: „Bis wir uns wiedersehen.” 
No, no, no, war alles, was ich noch dachte, bevor sie sich mir abwandte. Das war das Einzige, was ich nach all dem, was uns verbunden hatte, denken konnte, meine Gedanken zu flatterhaft und ungreifbar. Doch in Vergleich zu der brennenden Leidenschaft, zu dem noch größeren Schock, der mich erst in meinen Zustand von Unbegreifbarkeit erfasste und mich wie ein Tsunami fortriss, in die Breiten und Tiefen des Meeres, mit allem, was einen Menschen ausmachte.

© I Firch 2023-08-18

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Dunkel, Inspirierend, Entspannend, Traurig, Sad
Hashtags