Der lange Weg 1/2

Christine Haarhoff

von Christine Haarhoff

Story

… Und es passiert manchmal, sagte der liebe Gott, dass kleine Seelen ein bisschen sterben. Sie teilen sich dann und die kranke Hälfte kommt in das Haus der Gefühle.
Dort werden sie ganz behutsam mit der Sehnsucht, mit Zärtlichkeit, mit sensiblen Gedanken, mit dem Erkennen für das Schöne, mit Lachen, mit Traurigkeit und Wehmut und mit allen anderen Gefühlen zusammengeführt.

Allerdings kann die kleine Seele dort nicht lernen „DIE LIEBE“. Sie lernt Zuneigung und Liebe zu Blumen, zu anderen Menschen oder Tieren, aber nicht „DIE LIEBE“.

Wo liegt denn der Unterschied zwischen diesen Lieben, fragte eine kleine Seele, die dem lieben Gott sehr gerne zuhörte. Der Liebe Gott lächelte und sagte: Der Unterschied zwischen diesen Lieben ist so klein, dass er durch falsch gewählte Worte ganz verschwindet. Der Unterschied ist so groß, dass man ihn nicht erklären, sondern nur erkennen kann. Aber das, kleine Seele ist sehr selten. Wenn du dich jetzt auf den Weg machen würdest, um deinen anderen Teil zu suchen, würdest du voll sein von freudigem Erwarten, von Furcht, von Eile getrieben, der Angst daran vorbeizulaufen, und du würdest nie finden, weil der Weg über das Zwitschern der Vögel, dem Rauschen des Baches, dem Schmelzen des Schnees, dem Lachen eines Kindes, der Schönheit einer Blumenwiese oder dem sanften Hinabgleiten eines Regentropfens an einer Fensterscheibe führt.
Der liebe Gott hatte sehr gut aufgepasst. Tatsächlich fühlte sich die kleine Seele irgendwie nicht komplett. Sie spürte Unruhe, sie spürte das, was fehlte, aber sie wusste nicht, was es war. Ein paar Tage später wurde sie auf die große Reise geschickt. Sie war auserwählt.
Sie bekam eine Hülle, die sehr klein war, sehr zart und sehr beengt. Die kleine Seele konnte sich mit diesem kleinen Menschen um sich nicht bewegen. Sie war darauf angewiesen, mit Menschenohren zu hören, mit Menschenaugen zu sehen und mit Menschenfingern und Füßen zu ertasten und zu erfühlen.Der kleine Mensch spürte, dass etwas in ihm war. Etwas Schönes, etwas Warmes, das ihm half zu sehen und zu fühlen. Die beiden schmiegten sich eng aneinander und fühlten sich wohl. Bald merkte der kleine Körper, dass er auch wahrnehmen konnte, ohne sich an die kleine Seele anzulehnen. Der kleine Mensch wurde größer und um ihn herum wurde alles immer lauter, schneller, bunter und er wurde von anderen Menschen dazu angehalten, so viel wie möglich in seinem Gehirn zu speichern. Dinge, mit denen sich Menschen gerne beschäftigen. Die Größe von Autos, das gegenseitige Aussehen. Zahlen und Buchstaben, die nichts weiter sind als Zahlen und Buchstaben. Der kleine, wachsende Mensch fing an, seine Augen nicht mehr auf Blumenwiesen verweilen zu lassen, nicht mehr die Sonne zu genießen. Er ließ seine Augen gerade so lange auf Dingen verweilen, dass er sie sehen konnte, aber immer weniger so lange, dass er etwas erkannte und somit auch der kleinen Seele Gelegenheit gab dazu, Teil zu haben. Die Sensibilität und die Gabe des Sehens gingen ihm mehr und mehr verloren. Viele Dinge in seinem Leben wiederholten sich und er funktionierte. Die kleine Seele blieb trotz allem wachsam und nahm alles auf, was zu ihr durchdrang. Manchmal waren es herrliche, bunte, warme Sachen, doch oft drangen Verletzung, Trauer, Wut oder Angst zu ihr durch.

© Christine Haarhoff 2024-02-22

Genres
Spiritualität
Stimmung
Emotional, Hoffnungsvoll, Inspirierend, Reflektierend