von Alina Steffen
Die letzten Schatten der Nacht klammerten sich noch um die grauen Gebäude der Universität. Nebelschwaden waberten zwischen den parkenden Autos hindurch, zogen sich an der verglasten Außenwand hoch und versperrten meine Sicht über den Campus. Ich saß im dritten Stock des Naturwissenschaftlichen Gebäudes, nur ich und meine Lernzettel. Test schreiben, nach Hause rasen, umziehen und ab zur Beerdigung, das ist der heutige Plan. Und anschließend Abgaben bearbeiten, nicht zu vergessen. Ich ließ den Kopf gegen die kühle Fensterscheibe fallen. Die Lernzettel verschwammen vor meinen Augen, immer wieder kniff ich in meine Arme, um wieder den Fokus zurückzugewinnen, doch der hielt nie lange an. Drei Sätze lesen, abschweifen, kneifen, drei Sätze lesen. Ein Kreislauf, der erst mit dem Auftauchen meiner Freunde und dem Beginn des Kurses unterbrochen wurde.
Drei Stunden später befand ich mich in einer kleinen Kapelle. Roter Pulli, auf Wunsch meiner Patentante trugen wir alle fröhliche Farben. Der Raum war voll gepackt: Freunde, Familie, Nachbarn, ehemalige Arbeitskollegen, sie alle waren da. Ich nahm kaum einen von ihnen wahr. In der ersten Reihe waren noch einige Plätze frei, für mich und meine Eltern, meine Oma, den Bruder meiner Patentante. Die Trauerfeier begann. Gesprochene Worte, Gesang. Ich starrte nur auf die Urne. Blumen zierten sie, doch konnten sie nicht davon ablenken, dass dort die Überreste meines Patenonkels waren.
„Als sein Patenkind noch einige Tage vor seinem Tod zu ihm ins Hospiz kam, hat er gelächelt. Sie war für ihn wie seine eigene Tochter.“, sagte meine Patentante.
Heute ließ ich meine Tränen zu. Auf Beerdigungen durfte man traurig sein, das war der richtige Ort, die angebrachte Zeit. Ich schniefte, Rotze lief mir aus der Nase. Am Grab warf ich nicht nur Erde ins offene Grab, auch Tränen von mir fielen mit rein. Nachdem alle Abschied genommen hatten und wir uns in Richtung Café begaben, versiegten meine Tränen. Ich lachte wieder, redete und machte Small Talk mit Menschen, die mich von unzähligen Bildern kannten, die ich aber noch nie in meinem Leben gesehen hatte. Ich hatte meine Trauer herausgelassen, in genau der Zeitspanne, in der sie angebracht war.
Wir aßen zusammen, quatschten und fuhren anschließend nach Hause. Eine Handvoll von uns begab sich noch zu meiner Patentante. Die Zeit verging und ich wurde immer unruhiger. Ich musste noch Uni Sachen machen, die hatte ich für heute fest eingeplant. Mein Körper fing an zu kribbeln, meine Füße wippten unter dem Tisch. Konnte ich einfach gehen? Oder war das unhöflich? Es waren doch genug Leute hier um sich um meine Patentante zu kümmern. Ich musste lernen, lernen, lernen. Die Trauer war vorbei, Gefühle spielten keine Rolle mehr. Die Welt um mich herum rutschte wieder aus ihrem Fokus und die Geräusche wurden in Watte gepackt. Mia, bleib hier verdammt. Ich pikste mir in die Handfläche und kam zurück in die Gegenwart.
© Alina Steffen 2021-08-09