Der letzte Bohemien

Frederik Dressel

von Frederik Dressel

Story

Gestern eine Dokumentation über Toulouse-Lautrec gesehen, erzählt vom fantastischen Waldemar Januszczak höchstselbst, dem polnischstämmigen „Kunstkritiker mit der Piratenstimme“, wie einer unter das Video geschrieben hat.

Und direkt wieder malen wollen, mir eine Staffelei schnappen und durch Montmartre ziehen, oder auf ein Feld in Arles, so wie van Gogh in einer seiner produktivsten Phasen. Dabei kann ich das gar nicht, konnte es noch nie; nicht einmal zeichnen kann ich. Sondern ist es seit jeher das geschriebene Wort, in dem sich meine Kreativität auszudrücken entschieden hat, sind es Buchstaben, die in eng beschriebenen Zeilen zu Worten werden, wenn die Muse mir einen Besuch abstattet, Worte, die sich zu Sätzen formen.

Und so bin ich gezwungen, die Rolle des Beobachters einzunehmen, des stillen, allzumal, sind doch alle meine Idole schon lange tot. Sei es Edgar Degas, der getreue Protokollant der Weiblichkeit im Paris des ausgehenden 19. Jahrhunderts, der hinter den Kulissen der Pariser Schauspielhäuser zuhause war, Toulouse-Lautrec, der das Nachtleben zu adeln versuchte, seine ‘nostalgie de la boue’ in Empathie verwandelte, in ein tiefes Verständnis für seine Objekte. Oder eben van Gogh, der große Vincent, der seinem fortschreitenden mentalen Verfall auf der Leinwand entgegenzutreten suchte. Alle diese Männer eint das Jahrhundert, das mit dem ‘fin de siecle’ seinen fiebrigen Höhepunkt fand, bloß ich allein bin ein zu spät Geborener, habe nur noch ihre künstlerischen Vermächtnisse, um mich daran festzuhalten.

Und noch etwas eint sie: Paris, der Ort ihres Schaffens. Die Stadt, der meine Sehnsucht ebenso gilt wie der Zeit, in der man das Haus noch nicht ohne Anzug zu verlassen gewagt hätte, man seine Nachmittage damit verbrachte, im Bois de Boulogne sehen und gesehen zu werden. Und in der man am Abend ins Moulin Rouge ging, um sich zu ‘zerstreuen’.

Das Ganze ist natürlich hochgradig verklärt und ich mir dessen vollauf bewusst. Ich, der ich keinen Tag ohne Dusche sein kann, würde mich sicher weitaus weniger in jene Zeit zurücksehnen, hätten die Bilder der bewunderten Maler neben der visuellen auch noch eine olfaktorische Dimension. Und weitaus realistischer als die Reise durch die Zeit ist ohnehin die durch die Welt, durch Frankreich und nach Paris. Mit dem ICE bräuchte ich weniger als zwei Stunden, könnte ich zum Mittagessen dort sein und zum Abendessen wieder in Saarbrücken. Und dazwischen durch die gleichen Straßen flanieren, über die gleichen Steine vielleicht, über die diese Unerreichbaren im Absinthrausch nach Hause torkelten.

Und so buche ich mir kurzentschlossen noch für heute ein Ticket.

Oder schreibe zumindest, dass ich es täte. Weil ich letztlich doch zu viele Verpflichtungen habe, der Unterricht vorbereitet werden will, und die Wohnung gesaugt, wie ich mir sage. Und mit diesen Erwägungen letztendlich doch nur kaschiere, dass ich es mich gar nicht trauen würde.

Dass mir die Courage fehlt.

© Frederik Dressel 2022-08-07

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