“Und? Wie war deine erste Nachtschicht?“ Mit einem lobenden Grinsen schob Richard seine Stempelkarte in den Ableser und trat dann zur Seite, um Heider Platz zu machen. “Ganz gut eigentlich,” lächelte er und steckte seine Karte nach dem erlösenden Piepen wieder an ihren angestammten Platz in seiner HandyhĂĽlle. “Ich hab’s mir ehrlich gesagt etwas stressiger vorgestellt.” Richard klopfte seinem jungen Kollegen auf die Schulter, als sie durch die Schleuse auf den Parkplatz traten. “Das Stressige kommt noch,” sagte er, “wenn du den Bus Halb hier nämlich nicht erwischst, stehst du hier bis 6.” Der MittfĂĽnfziger zwinkerte Heider zu, schloss seinen Wagen auf und warf seinen Rucksack auf die RĂĽckbank. “Ich wĂĽrd’ dich ja mitnehmen, aber du musst ja in die andere Richtung.” Heider winkte ab. “Ich versteh’ schon. Bis morgen, Richard.” “Komm gut nachhause, Junge.” Heider sah noch zu, wie sein Kollege vom Parkplatz des Versandhauses fuhr und lief dann einen kleinen Pfad zur HauptstraĂźe, an deren Haltestelle der Bus abfuhr. Obwohl sie mitten im Industriegebiet lag, war die Haltestelle, bis auf einen älteren Herrn auf der Bank, leer. TagsĂĽber drängten sich die Leute wie Sardinen auf die Plattform, und es war schon einige Male vorgekommen, dass der Bus so ĂĽberfĂĽllt war, dass Heider auf den nächsten warten musste. Er nickte dem Mann flĂĽchtig zu, steckte das Kopfhörerkabel in sein Handy und versicherte sich mit einem kurzen Griff in seine Jackentasche, ob er sein Etui mit der Fahrkarte am Mann hatte. Heider wählte einen Song und schielte dann nochmal zu dem alten Herrn herĂĽber; er wirkte zu alt um ein Arbeiter zu sein. Viel zu alt. Hier gab es nur Werkstätten, Lager und Versandhäuser und Heider ĂĽberlegte, wo ein Mann wie er zu dieser Stunde wohl herkam. Eigentlich ging ihn das gar nichts an – vielleicht war er obdachlos oder war in den falschen Bus gestiegen. Gerade zu so später Stunde vielleicht nicht unwahrscheinlich. Gerade als der Song endete hielt der Bus vor der Haltestelle, und Heider wartete bis der Mann eingestiegen war, bevor er selbst in den Bus trat. Der Herr setzte sich auf einen der vorderen Vierer, während Heider sich einen Platz im hinteren Teil des Busses suchte. Entspannt lehnte er sich zurĂĽck und wählte einen neuen Titel an, als eine Chatblase auf dem Display auftauchte. Es war Katja; “Wann bist du zuhause?” “Gerade eingestiegen. Etwa eine halbe Stunde.”, schrieb er. “Gut. Abendessen ist in der Mikro. Mach bitte leise. HDL! <3” Er lächelte; “HDAL <3 ” Heider lieĂź seinen Kopf gegen das kĂĽhle Fensterglas fallen. Erst jetzt merkte er, wie mĂĽde er war und wie sehr er sich auf seine Freundin freute. Seit er im Versandhaus arbeitete, hatte er nur Tagschichten geschoben; dann war er gegen 17 Uhr zuhause und konnte den Abend mit Katja verbringen, die meist ein paar Stunden vorher von der Uni kam. Sie kochte dann und sie schauten einen Film- das war ihr Ritual. Vielleicht das einzige, das Heider bei den langen Stunden monotoner FlieĂźbandarbeit dabei half nicht durchzudrehen. Während die Bäume am Fenster vorbei jagten und sich mit hellerleuchteten Gebäuden und Anlagen abwechselten, fiel Heider auf, dass der Mann verschwunden war. Vor dem Bus tauchte eine Abzweigung auf, an der eine STERN-Tankstelle lag. Das konnte doch nicht sein? Der Bus konnte noch nicht angehalten haben. Das hätte Heider doch mitbekommen. War er eingeschlafen?
© Alexandra Behrend 2023-09-03