von Markus Schwaiger
“Das ist aber gar kein Ortolan”, empört sich der Ornithologe, “das ist eine Blaumeise”. Ich weiß, ich weiß, man möge es mir verzeihen. Als frisch geschlüpfter Vogelbeobachter wollte ich unbedingt ein selbstgemachtes Foto zur Schau stellen. Allerdings konnte ich den letzten in Österreich brütenden Ortolan nicht aufspüren. Im Tiroler Inntal soll er leben. Ein Männchen.
Der Ortolan ist ein Singvogel der besonderen Art. Sein Gesang soll Inspiration für Beethovens 5. Symphonie gewesen sein und je nach Region singt der Ortolan sogar in verschiedenen Dialekten. Man kann also tatsächlich einen Ortolan aus Polen von einem Ortolan aus Deutschland am Gesang unterscheiden. Unglaublich. Wie gerne würde ich den Dialekt des letzten Tiroler Ortolans hören. Tschilp-K-Tschilp-K-Tschilp-K.
Der Ortolan wird im Übrigen auch Gartenammer genannt und manchmal auch Fettammer. Aber zur Fettammer wird er erst, wenn man ihn fängt, ihm die Augen aussticht und dann 14 Tage lang mästet. Denn im Dunkeln verliert der Ortolan seinen Tag-Nacht-Rhytmus und frisst einfach immer weiter. Sobald er fett genug ist, ertränkt man ihn in einem französischen Brandy und gart ihn anschließend in Fett in einem für ihn speziellen Mini-Topf. Dann steckt man sich den Vogel komplett in den Mund und zerkaut ihn. Damit das Aroma nicht entweicht, stülpt man sich beim Essen eine Serviette über den Kopf. Außerdem soll so auch dem Tischnachbar der Anblick und das Geräusch der knackenden Knochen erspart bleiben. Eine Delikatesse eben. (Die Online-Bilder-Suche erfolgt auf eigene Verantwortung.)
Am Ende ist es egal, ob der letzte Ortolan die Reise Richtung Süden im Magen eines Gourmets beendete, ob er an Pestiziden oder doch am Tiroler “K” erstickte, oder ob er hoch oben auf den Baumwipfeln des Inntals einsam und verlassen ein letztes Lied anstimmt und sich, trotz Tiroler Dialekt, vergeblich bemüht ein Weibchen anzulocken – jedenfalls wird mir der letzte Ortolan Österreichs wohl eher nicht mehr vor die Kamera fliegen. Gut, dass ich zumindest schon ein selbstgemachtes Blaumeisen-Foto habe, das ich meinen Enkeln zeigen kann, wenn die Blaumeise mal ausgestorben ist.
© Markus Schwaiger 2021-05-12