von Theodor Leonhard
“Geschafft! Jetzt habe ich ihn zum Lachen gekriegt!“ Voller Stolz hätte sich der Letzte Strohhalm auf die Schultern geklopft, wenn er welche gehabt hätte. Jedenfalls war er ganz begeistert von sich selbst. Ihm war es gelungen, dem Kind in der Krippe ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern. Dass er das erleben durfte! Ausgerechnet er. Er konnte sein Strohhalm-Glück kaum fassen.
Dabei hatte es in seinem bisherigen Leben alles andere als von Anfang an rosig ausgesehen. Konnte es auch nicht. Schließlich war er Stroh und keine Rose. Schon als Kind wurde ihm beigebracht, dass er vor allem dazu da war, das Korn über ihm möglichst weit der Sonne entgegen zu strecken. Und wenn das Korn reif wäre, dann würde er solange gedroschen, bis er nur noch leeres Stroh wäre. Diese Aussicht hatte ihn so sehr niedergedrückt, dass er selbst unter den Strohhalmen bald als der Letzte galt. Als sich dann auch noch manche Menschen an ihn klammerten, eben weil er der letzte Strohhalm war …
Immerhin konnte er sich in ein Büschel Stroh retten, nach dem er leer gedroschen war. Aber in diesem Büschel war er in der Hierarchie ziemlich weit unten. Es gab stramme, gerade Halme von annähernd einem halben Meter Länge. Er aber konnte höchstens 7,5 cm auf den Meterstab bringen und das auch nur, wenn er seine abgeknickten Stellen gerade bog und lang streckte. Kein Wunder, dass er auch in diesem Büschel kein hohes Ansehen genoss. So sinnierte er vor sich hin den lieben langen Tag und die schlaflose lange Nacht.
Bis … Ja bis dieses Paar in den Stall kam, in dem außer ein paar Büscheln Stroh noch eine leere Futterkrippe stand. Bald ging es los mit den Wehen. Unüberhörbar! Der Letzte Strohhalm lugte zwischen den großen Halmen hindurch. Sein Mund wäre ihm offen stehen geblieben, wenn er einen gehabt hätte. So etwas erlebst Du ja als Strohhalm nicht jeden Tag. Der letzte Strohhalm spürte, dass da gerade etwas ganz Besonderes passierte. Und dann geschah das Letzte-Strohhalm-Wunder. Der Vater Josef wählte ausgerechnet das Letzte-Strohhalm-Büschel Stroh aus, um seinem neugeborenen Sohn ein bequemes Strohlager zu richten. Mit den großen Halmen legte er den Boden der Krippe aus. Die eher kleineren sollten dazu dienen, dass sich das Kind hinein kuscheln konnte. Nicht immer sind die Großen für alles am besten geeignet.
So lag der Letzte Strohhalm schließlich nur eineinhalb Zentimeter neben einer ganz kitzligen Stelle am Ohr des Kindes. Bei jeder Bewegung im Stall, bei jedem Atemzug des Ochsen zog sich der Letzte Strohhalm näher.
Endlich hatte er es geschafft. Er hat den kleinen Kerl zum Lachen gekriegt. Zum ersten Mal in seinem Leben ein Strahlen im Gesicht. Er, der Letzte Strohhalm war es. Er, der gedroschen wurde, bis er leer war. Er, den sogar seine eigenen Strohgenossen verachtet hatten. Er, an den sich sogar viele Menschen richtig geklammert und ihn nicht losgelassen hatten. Er hat dafür gesorgt, dass zum ersten aus dem Gesicht des Kinds die Liebe Gottes gelacht hat. Er, der Letzte Strohhalm.
© Theodor Leonhard 2021-12-23