Am Morgen sitzen sie sich am Frühstückstisch gegenüber. Paulina greift in den Brotkorb, holt einen Laugenkringel heraus und beißt hungrig hinein. „Ich hab etwas vergessen!“, sagt Paul. Schon eine Minute später erklingt die Melodie des Second Waltz von Schostakowitsch und Paulina beginnt auf ihrem Stuhl mitzuschwingen. Erst vor einer Woche feierten sie ihre Goldene Hochzeit. Heute werden sie wieder zum Seniorentanz gehen. Den Walzer liebt Paulina ganz besonders. Wenn sie in Pauls Armen liegt und sich an ihn schmiegt, ist es wie früher in ihrer allerersten gemeinsamen Zeit. Der Funke springt immer wieder aufs Neue über und sie ist selig. Und nach einem erfüllten Berufsleben schmieden sie nun Reisepläne. Sie sitzen immer noch am Frühstückstisch, als das Telefon klingelt. Paulina greift nach dem Hörer und als sie langsam zum Tisch zurückgeht, hängt plötzlich etwas Beängstigendes im Raum.
Mehr als ein Jahr ist vergangen, als Paulina nach zwei Chemotherapien beschließt, die Behandlung zu beenden. Die Nebenwirkungen waren sehr belastend. Nichts mehr ist wie es war und ihre Zukunftspläne sind vergessen, als habe es sie nie gegeben. Paul ist verzweifelt. Die Angst, seine Frau, die Liebe seines Lebens, zu verlieren, droht ihm den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Seit fünfzig Jahren ist sie sein Anker. Mit ihr an seiner Seite bestand er auch die beruflichen Krisen in stürmischen Zeiten. Und inzwischen ist sie der strahlende Mittelpunkt ihrer Großfamilie. Doch er sieht, wie sie leidet und respektiert schweren Herzens ihre Entscheidung. Paulina scheint wieder aufzublühen. Doch im Stillen beginnt sie, Abschied zu nehmen. Es ist gar nicht so schwer wie sie es sich vorgestellt hat. Als junge Frau hatte sie große Angst vor dem Sterben. Nun ist sie vor allem erfüllt von Dankbarkeit für ihr Leben an der Seite ihres Mannes, der Liebe ihres Lebens, und das Eingebettet-Sein in ihre große Familie. Sie weiß aber auch, dass sie trauern werden nach ihrem Tod. Was kann ich nur tun, damit ihr Schmerz nicht so groß sein wird? Alle Antworten, die in der Stille der Nacht in ihr auftauchen, schreibt sie auf. Es wird ein langer Brief an die Familie: Worte der Liebe, der Dankbarkeit, der Freude und der Gewissheit, dass die Liebe auch mit dem Tod nicht endet, dass sie in den Herzen ihrer Liebsten weiterlebt. Die Liebe wird Euch die Kraft schenken, ein glückliches Leben weiterzuführen. – Nach einer ruhigen Nacht wacht Paulina schon beim Morgengrauen auf. Heute werde ich von dieser Welt gehen! Sie lauscht der Stimme in ihrem Inneren nach. Da ist kein Erschrecken, keine Angst. Ich werde keine Schmerzen mehr haben. Ich werde frei sein, frei von allem Leiden. Doch einen allerletzten Wunsch hat sie noch. Es ist, als könne Paul ihre Gedanken lesen. Aus dem Wohnzimmer dringen die Klänge des Second Waltz. Mit rotgeweinten Augen kommt er herein, setzt sich zu ihr aufs Bett, nimmt sie in seine Arme und wiegt sie sanft im Walzertakt. Sie ist leicht wie eine Feder. Paulina schließt die Augen. Sie schwebt mit ihrem Liebsten … auf den sanften Klängen …. endlos … Paul hat die Repeat-Taste aktiviert. Er weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist. Paulinas Kopf ruht schwer auf seiner Brust. Immer noch wiegt er sie, als die Tochter leise hereinkommt und eine Hand auf seine Schulter legt. Wir tanzen, will er sagen, doch seine Kehle ist verschlossen. Lautlos rinnen Tränen von seinen Wangen.
© Gabrielle Jesberger 2024-03-09