Der Löwe Mann

Wie lange war sie in diesen Mann schon verliebt? Jahre! Er war so schön anzusehen, hatte alles, was sie sich wünschte, alles, was sie sich in ihrem Kopf zurecht gelegt hatte. Ein doppelter Löwe, das auch noch! Wenn er den Raum betrat, sah ihn jede Frau. Charmant, zurückhaltend, ein bisschen unnahbar und geheimnisvoll, aber nicht zu übersehen.Als er ihr das erste Mal gegenüber stand, in der Küche bei Freunden, blieb für einen Augenblick die Zeit stehen. Das war’s, endlich der Richtige! All seine Schwächen, falls es welche gab, waren anziehend, Ansatzpunkte, um ihm zu helfen, für ihn da zu sein, unentbehrlich zu werden. Er würde sie eines Tages lieben, so bedingungslos wie sie es konnte.Dass er zu viel trank, spielte keine Rolle, er hatte alles unter Kontrolle. Eines Tages würde er auch die Nacht bei ihr verbringen, die ganze Nacht. Er braucht noch Zeit. Aber darüber haben sie nie gesprochen. Über vieles haben sie nie gesprochen, denn sie wusste, es wäre das Ende gewesen.

Dieser geheimnisvolle Löwe, nach dessen Berührungen sie sich so schmerzvoll sehnte, in dessen Armen sie sich selbst vergaß und für einen Augenblick lang wusste, wonach sie suchte, dieser Löwe verschwand genauso schnell im Dickicht, wie er aufgetaucht war. Er füllte ihre Fantasie mit Geschichten, die schön waren und immer gut endeten. Sie hatte schon lange seine Biografie in ihrem Kopf geschrieben, jedes Detail überdacht, abgewogen, verurteilt und wieder gerade gebogen. Sie sahen sich selten, denn er war unterwegs, sprach von Projekten, beeindruckenden Dingen, von denen sie nichts verstand. Und er sagte, er sei ein Hedonist. Sie googelte das Wort, suchte in alten Büchern der Familienbibliothek, um sicher zu sein, was damit gemeint war. Wenn sie sich nicht täuschte, waren Hedonisten dem Untergang geweiht, bedeuteten nichts Gutes. Doch solch irritierende Gedanken fielen bald in die Vergessenheit hinab, wo sie nicht mehr störten.Dann kam die Nachricht, unfassbar, wie ein Schuss in den Magen. Alle Gefühle verschwanden, es blieb ein lautes Pfeifen im Kopf. Der Atem wurde flach und hätte gerne aufgehört, zu existieren. Sie wird ihn nie mehr spüren, nie mehr seinen Atem aufsaugen, nie mehr um ihn kämpfen. Die plötzliche Leere war beängstigend, die Geschichte im eigenen Kopf hatte ein Ende gefunden und die Wahrheit sollte nicht Teil der Geschichte sein.

Der Löwe Mann hat geheiratet, eine Frau mit der er seit Jahren sein Leben teilt. Sie haben eine gemeinsame Tochter, so alt wie ihre bedingungslose Liebe für ihn. Er kam noch mal zu ihr, wollte die Dinge aufgreifen, wo er sie zurückgelassen hatte. Doch es war ein anderer Mann, einer, den sie nicht kannte. Er entsprach ihren Vorstellungen nicht mehr, seine Augen waren trüb geworden, sein Blick unsicher, und plötzlich wurde ihr das ganze Ausmaß ihrer eigenen Täuschungsmanöver klar. Ein schmerzlicher Gedanke, für den sie dankbar war, denn nun hatte sie etwas über Liebe und sich selbst gelernt.