368 Menschen sitzen auf dem dunklen Holz der kalten Kirchenbänke, ich habe sie gezählt. Egal, wer sie für jeden davon war: für mich war sie die Welt. Ob ich jemals ihre hätte sein können? Ich bin nicht sicher. Und doch bin ich ihre Muse gewesen, wenn auch nur für kurze Zeit.
Das letzte Bild, das sie gemalt hat, war ihr bestes. Mach dir keine Sorgen, Lina, ich werde es in Ehren halten. Du hast es mir überlassen, weil du wusstest, dass ich jeden Pinselstrich, jeden Punkt, jede Linie darauf schätzen würde, sogar die Stellen, an denen deine Fingernägel panisch die Farbe abgekratzt haben. Du hast es nie benannt, aber als ich es zum ersten Mal sah, wusste ich, wie ich es nennen würde. Geordnetes Chaos. Voller Gefühl, obwohl die Pinselstriche eine perfekte Ordnung ergeben. Es gibt wieder, wer du warst: Chaos mit einer eigenen Ordnung und wenn ich sterbe, wird es dieses Gemälde sein, das dich unsterblich macht und zugleich mich, weil du es in meinem alten Schuppen ins Leben gerufen hast, kurz bevor du starbst.
Ob ich es deiner Familie zeigen sollte? Lieber nicht, sonst wĂĽrden sie mich erkennen. Sie verdienen es gar nicht. Nicht dein Bruder, der sich die Augen wischt, obwohl er nicht weint. Nicht dein Vater, der so tut, als wĂĽrde er sich zu dir legen wollen und auch nicht deine Mutter.
„Die arme Familie“, stören die Quasselstrippen hinter mir. „Wie lange hat es nochmal gedauert, bis die Polizei sie gefunden hat? Ein paar Monate, ja?“
Genau 189 Tage. Ob es ihnen die Lippen versiegeln würde, wenn ich ihnen davon erzählte? Vielleicht sollte ich und wenn ich es täte, könnte ich möglicherweise wieder meine Finger spüren. Wenn sich meine krampfende Faust nicht lockert, wird mir die Hand einschlafen und ich werde gegen den Beichtstuhl schlagen müssen, um wieder etwas zu fühlen.
So wie meine Hand musst du dich gefühlt haben, Lina: taub und schwer. Du wolltest nicht mehr hier sein und bist überhaupt erst in meinen Jeep gestiegen, damit ich dich fortnehmen könnte. Anders als die anderen kenne ich die Wahrheit. Schließlich habe ich dich lange genug beobachtet. Mehrere Monate lang habe ich in meinen dunklen Ecken deine Verzweiflung gespürt, die Sehnsucht in deinen Bildern, die Langeweile hinter jedem Lächeln und die kryptischen Selbstmordgedanken in deinem Tagebuch analysiert.
Du wolltest fort, weil sie dir ein geordnetes Leben abverlangten. “Lieber würde ich sterben,” hast du deinem Tagebuch gesagt, weil du dich ohne das Chaos, das Leben für dich war, nicht lebendig fühlen konntest. Ich hoffe, die Heuchler in dieser Kirche werden irgendwann verstehen, dass sie dich umgebracht haben, als sie dir das Chaos nahmen.
Deine Kehle durchtrennt habe ich, aber umgebracht habe ich dich nicht – das hätte ich nie. Ich habe dich geliebt: aus der Ferne und ohne die Erwartung, zurĂĽck geliebt zu werden. Bedingungslos genug war meine Liebe, um deinem Leid ein Ende zu setzen. Aus Gnade und dass ich es tun musste, liegt nur an ihnen: den Leuten, die dich umgaben, aber niemals kannten.
© Sima B. Moussavian 2022-07-13