von Schlisa
Es gab einmal einen Mann, ich habe ihn nie kennengelernt, doch er lebte in unserem Haus. Ich weiß nicht, wie er aussah und auch nicht, wie er geheißen hat. Nicht was er gerne aß und trank oder wo er herkam. Und vor allem weiß ich nicht, warum gerade unser Haus seine Bleibe werden musste.
Alles fing damit an, dass mich eines Tages das Gefühl beschlich beobachtet zu werden. Zuerst kam es von außerhalb und ich spürte es am meisten, wenn ich mich im Wohnzimmer vor dem großen Fenster aufhielt. Mir war, als säße Tag und Nacht etwas davor in dem Baum. Schon bald darauf ergriff mich diese Empfindung auch in der Küche. Es dauerte nicht lange, bis ich mich nirgends im Haus mehr sicher fühlte. Überall schienen Kameras installiert worden zu sein, auch wenn ich sie nicht sehen konnte. Nach einer langen Weile, ich lebte nun schon mehrere Jahre mit diesen Umständen, konnte ich mich damit arrangieren und es belastete mich kaum noch. Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, der Mann hat diese Veränderung auch wahrgenommen, denn als ich dachte, dass nun wieder ein wenig Normalität einkehren würde, ging der Spaß erst so richtig los: Wir fingen an, ihn zu sehen.
Mit „Wir“ meine ich mich und Melissa, meine kleine Schwester. Einerseits war es schön zu wissen, dass ich mir die Kameras also nicht eingebildet hatte und dass ich nicht die Einzige war, die dieses Phänomen wahrnahm. Andererseits wäre es mir aber wirklich lieber, wenn das alles einfach nur ein Produkt meiner Fantasie gewesen wäre.
Es gab viele Momente, in denen der Mann sich uns zeigte, auch wenn ich mir unsicher bin inwieweit er jedes Mal von uns wahrgenommen werden wollte. Das erste Mal sah ich ihn, als er eines Nachts das Licht vor unserer Haustür aktivierte. Ich dachte es sei unsere damalige Katze, die reingelassen werden wollte. Doch im Spiegel sah ich, dass es eine große schwarze Gestalt war, die wie versteinert dort zu stehen schien. Panisch rannte ich die Treppen hinauf, da keiner aus meiner Familie zu diesem Zeitpunkt draußen gewesen war und wir keinen Besuch erwarteten. Es musste sich folglich um den Mann handeln. So klar und deutlich sah ich ihn nie wieder, nurnoch in Schatten. Vermutlich hatte er mich damit nur abschrecken wollen, damit ich mich ihm nicht weiter näherte und aufhörte anderen Menschen von ihm zu erzählen. Meine Schwester jedoch sah ihn häufiger. Immer mal wieder erschien er in ihrem Türrahmen, doch wenn sie hinsah, war er weg. Einmal, so erzählte sie mir, habe er ein Messer in der Hand gehalten, das habe sie aus dem Augenwinkel erkannt. Doch auch da verschwand er, als sie genauer hinsah.
Irgendwann zeigte er sich auch ihr nicht mehr und wir dachten, der Spuk sei nun vorbei. Doch dann begann er, Schabernack mit uns zu treiben: Jeden Abend mussten Melissa und ich das Licht bei unserer Oma ausmachen, da wir meist die letzten waren, die sich da noch aufgehalten hatten. Und jedes mal, wenn wir es ausschalteten, schaltete der Mann es wieder ein. Es war albern, aber effektiv. Keiner glaubte uns, als wir erzählten, dass er es war, der das Licht wieder einschaltete. Unsere Glaubwürdigkeit wurde zerstört und der Mann in unserem Haus konnte sicher sein, dass niemand jemals nach ihm suchen würde.
© Schlisa 2023-09-11