Der Mann mit dem Hut I

Jannik Becker

von Jannik Becker

Story

Es gibt ein Land, das außerhalb des Sichtbaren existiert. Das bedeutet nicht, dass es nicht real ist – ganz im Gegenteil. Wer auch immer diese Schrift finden mag: Ich bitte dich, urteile nicht zu schnell über meinen gesundheitlichen Zustand. Ich kann dir nicht sagen, wie oft und wie lange ich von einem Arzt zum nächsten gerannt bin. Ich habe das Internet durchforstet, die tiefsten, verborgenen Seiten besucht, um nach Heilern zu suchen, die mich von meiner ursprünglich gedachten Krankheit befreien könnten. Doch egal, wo ich war, wen ich besuchte und wohin ich zu gehen versuchte, mein Zustand ließ mich nicht los. Am ehesten könnte man es mit einem Fieber vergleichen. Wobei „Fieber“ dem nicht ganz gerecht werden würde. Doch bevor ich weitere Zeilen schreibe, die nur zu weiteren Fragen führen, fange ich am besten dort an, wo alles begann: am Tag meiner Geburt.

Man sagt, man erinnert sich nicht an die ersten Jahre seines Lebens. Ich habe mich schon immer unwohl gefühlt, dem zu widersprechen. Doch wann immer ich es tat und von meinen frühesten Erinnerungen erzählte, sagte man mir, dass mein Gehirn eigentlich die Erzählungen meiner Eltern als Erinnerung abgespeichert hätte. Eine Frage, die ich mich nie traute auszusprechen, war, weshalb ich mich dann an so vieles erinnerte, das mir allein widerfahren ist. Ich erinnere mich an einen Ort voller Wärme und einer pulsierenden Macht, die zu mir sprach. Sie sagte mir Dinge, befahl mir, eine schleimige Konsistenz zu konsumieren. Ich war gefesselt an einer Schnur. Jeder Moment – damals konnte ich noch nicht sagen, ob es Tage oder Wochen waren – fühlte sich an, als würde ich in einem schleimigen Käfig nach Luft ringen. Doch irgendwann kam der befreiende Moment. Ein Moment, der jedoch auch traumatisierend war und mich bis heute in meinen Träumen verfolgt. Den genauen Vorgang der Geburt muss ich nicht schildern, doch ich kann nur sagen: Die Gesichter, die mich ansahen, waren das furchteinflößendste und zugleich schönste, was ich je gesehen habe. Doch ein Schatten legte sich über – wie ich später erfuhr – meine Mutter. Ein Mann mit einem Hut. Obwohl ich im Nachhinein nicht sagen kann, ob es tatsächlich ein Mann war. Die Wochen vergingen, und es gab keinen Tag, an dem der Mann nicht mindestens einmal am Tag über mir schwebte und mich mit großen, dunklen Löchern, die sich in seinem Gesicht ausbreiteten, anstarrte. Ich saß im Gras und spielte, und der Schatten lehnte sich über mich. Er schien damals so unfassbar groß. Wenn meine Mutter mit mir im Wald spazieren ging, ragte der Mann mit dem Hut zwischen den Bäumen hervor und winkte mir zu. Immer wieder verschwand er tiefer im Wald, hielt aber stets einen sicheren Abstand zu mir und meiner Mutter. Damals dachte ich, er hätte vielleicht Angst, also fragte ich meine Mutter, warum wir dem Mann nicht einmal Hallo sagten. Nachdem meine Mutter wie erstarrt stehen blieb und mich noch am selben Tag zu einem Kindertherapeuten brachte, musste ich den Mann genau beschreiben. Doch plötzlich merkte ich, dass dies vollkommen unmöglich schien.


© Jannik Becker 2024-09-09

Genres
Spannung & Horror
Stimmung
Dunkel, Mysteriös