Der Mann mit dem Hut II

Jannik Becker

von Jannik Becker

Story

Monate vergingen, in denen ich die Stunden bei Frau Junas absaß. Ich sollte den Mann zeichnen, malen, mich anziehen wie er. Ich verstand nicht, warum, und Frau Junas schien nie zufrieden zu sein. Oft wurde mir gesagt, ich solle das Gesicht des Mannes malen, und obwohl ich ihn auf dem Parkplatz nur wenige Meter von meiner Mutter entfernt sehen konnte, war es unmöglich, seine Gesichtszüge zu erfassen. Frau Junas beendete schließlich die Therapiestunden, obwohl meine Mutter flehte und bettelte. Sie bot ihr sogar mehr Geld an, doch Frau Junas, die seit Wochen den Eindruck machte, keinen Schlaf mehr gefunden zu haben, lehnte selbst die tausend Euro für eine Stunde ab.

Nach diesen Monaten wurde meine Mutter immer ruhiger. Der Mann stand im Garten und goss die Blumen, manchmal stand er einfach nur da und schien im Stehen zu schlafen. Er machte einen erschöpften Eindruck, also brachte ich ihm ein Glas Wasser – doch er reagierte nicht auf mich.

Jahre vergingen und weitere Jahre.

Am 14. September 1999 fragte ich schließlich nach langer Zeit meine Mutter als ich sie an ihrem Geburtstag besuchte, nach dem Mann mit dem Hut. Ich hatte ihn nicht mehr gesehen, seit ich weggezogen war, doch meine Mutter erinnerte sich nicht an den Mann. Auch nicht an die Therapiestunden bei Frau Junas. Nach einer Weile wurde ich wütend und redete stundenlang auf sie ein. Ich erklärte, dass ich in meiner Kindheit Jahre damit verbracht hatte, zum Therapeuten zu gehen, während die anderen draußen spielten, dass sie Angst bekam, wenn ich von ihm sprach. Doch nichts. Keine emotionale Reaktion, nicht das kleinste Zeichen der Erinnerung. Nach diesem Besuch kehrte ich nie wieder ins Haus meiner Kindheit zurück. Ich durchforstete das Internet nach Frau Junas, doch als ich nichts über sie finden konnte, begann ich, an meinem Verstand zu zweifeln. Ich nahm mir vor, die Einrichtung zu besuchen, in der ich behandelt worden war. Am Empfang war eine junge Dame, die mich freundlich bediente und alle Unterlagen nach meinem Namen sowie nach Frau Junas durchsuchte – doch auch sie konnte nichts finden. Ich setzte meinen ganzen Charme ein, um die Dame zu überreden, mir zu erlauben, das alte Zimmer meiner ehemaligen Therapeutin zu besuchen, und zu meinem Glück hatte ich Erfolg. Als ich in eben jenen Raum trat, in dem ich von Frau Junas behandelt worden war, überkam mich das Gefühl, von einer unsichtbaren Hand berührt zu werden. Ich erinnere mich noch genau, wie sich meine Nackenhaare aufstellten und ich ruckartig meinen Blick nach hinten warf. Ein leerer Gang, sonst nichts. Ich betrat das Zimmer, atmete tief durch und versuchte, so konzentriert und gelassen wie möglich den Raum zu durchsuchen. Das Seltsame war, dass alles gänzlich leer und fast unberührt wirkte. Der Schreibtisch stand noch an Ort und Stelle, die geschmacklosen Bilder und die Blumengardinen an den Fenstern. Alles war so, wie an dem Tag, als ich es als Kind zum letzten Mal verlassen hatte. Ein ungutes Gefühl überkam mich.



© Jannik Becker 2024-09-09

Genres
Spannung & Horror
Stimmung
Mysteriös