Nachdem er seine Tochter mit seinem Enkel verabschiedet hatte, begab sich Wolfgang zu den Treppen, die in die U-Bahn-Station hinunterführten. Auf halber Strecke kam ihm ein junger Mann entgegengehetzt. Dieser tippte wild auf seinem Smartphone herum. Er wollte ihm gerade ausweichen, da stolperte Wolfgang über die Stufenkante. Glücklicherweise konnte er sich rechtzeitig an dem Geländer festhalten. Eilig kam ihm ein anderer Passant zu Hilfe. Der junge Mann stürmte einfach weiter.
„Was für eine Unverschämtheit”, wetterte der Passant, während er Wolfgang aufhalf. „Erst tritt er wütend gegen die Tür, weil sie sich vor seiner Nase schließt. Und dann schubst er auch noch Sie beinahe von der Treppe. Die jüngere Generation geht den Bach runter.” Entrüstet schüttelte der Passant den Kopf.
Wolfgang bedankte sich für seine Hilfe und ging zu seinem Bahnsteig. Er nahm es dem jungen Mann nicht übel. Schließlich war er über seine eigenen Füße gestolpert und nicht von ihm geschubst worden. Und wer weiß, was der Mann heute schon durchmachen musste. Wolfgang kannte solche Tage. In seinem bisherigen Leben hatte er genug davon gehabt. Seit er in Rente gegangen war, nahm er sich Dinge weniger zu Herzen und ließ sich so wenig wie möglich von anderen stressen. Stattdessen genoss er die schönen Momente in vollen Zügen. So wie den wundervollen Nachmittag mit seinem Enkel. Zusammen waren sie im Tiergarten gewesen. Ben freute sich immer wieder, die Giraffen zu sehen. Das waren seine Lieblingstiere. Zumindest momentan. Vor ein paar Wochen waren es noch Elefanten. Bei dem Gedanken an seinen Enkel schlich sich ein leises Lächeln auf Wolfgangs Lippen. Er hoffte, Ben würde sich diese Tierliebe bis ins Erwachsenenalter behalten.
Dann fuhr auch schon die U-Bahn ein. Obwohl ihm der Nachmittag im Tiergarten natĂĽrlich auch sehr gefallen hatte, taten ihm nach stundenlangem Laufen doch die Gelenke weh. Erleichtert lieĂź er sich in einen der Sitze fallen. Seufzend streckte er die Beine aus.
Ihm schräg gegenüber saß eine junge Frau. Ihre langen dunklen Haare hatte sie zu zwei Zöpfen geflochten, die ihr über die Schultern hingen. Ihr dicker Wollmantel schützte sie vor der bitteren Herbstkälte. Während der Fahrt sah sie immer wieder unauffällig zu ihm hinüber. Wolfgang versuchte in der Fensterscheibe sein Spiegelbild zu erkennen. Hatte er etwa noch Senf von den Würstchen am Kinn?
Doch es waren keine Speisereste, die die Aufmerksamkeit der Frau auf ihn lenkten. Es waren seine Augen. Noch nie hatte sie ein so blasses Blau gesehen. Die Iris schien aus Eis zu bestehen. Wie reinstes Gletschereis. An den Rändern war sie so hell, dass es beinahe Weiß aussah.
Sie war schon immer davon überzeugt gewesen, dass die Augen das Tor zur Seele waren. Und bei diesem älteren Herrn mit den eisblauen Augen hatte sie das Gefühl, tatsächlich in sein Inneres blicken zu können.
© Anna-Maria Noller 2022-11-08