Der Mann mit der Handtasche.

Helga M. Stadler

von Helga M. Stadler

Story

Meinen ersten Tätowierten lernte ich als 14-Jährige auf einer Sprachreise in England kennen und fürchtete mich. Das Vorurteil, nur ehemalige Gefängnisinsassen oder kahlköpfige Matrosen ließen sich Tinte in exponierte Körperteile stechen, hielt sich noch Anfang der 80iger, in der dörflichen Umgebung, in der ich aufwuchs, hartnäckig. Jack, mein „gepeckter“ Host Father, entpuppte sich schlussendlich nicht als Serienmörder „Jack the Ripper“, sondern als liebender Vater.

Jede Andersartigkeit, jedes Verlassen und Abweichen von der sog. Norm, egal, in welche Richtung oder in welchem Ausmaß, egal, ob Beruf, Lebensstil & Familienstand, Interessen, Glaube, Traditionen oder Aussehen & Kleidung betreffend, wurde von der Dorfgemeinschaft, den Ansässigen, argwöhnisch betrachtet, in Einzelteile zerpflückt. Toleranz, ein Fremdwort. Muss man doch bedenken, dass es in dem 2.000-Seelen-Dorf keinen einzigen Fremden gab, und kulturelle wie sprachliche Vielfalt, wie sie heute gelebte Praxis ist, noch weit entfernt. Der einzige „echte“ Ausländer meiner Kindheit, ein Türke namens Ali, war ein typischer Gastarbeiter, der für die Gemeinde hackelte.

Da war der Schulkollege P., Vaterlos, ein anderer, J. und dessen Vater, Alkoholiker, der in einer Frostnacht stürzte und erfror. Da M. und R., deren beide Eltern sich scheiden ließen und plötzlich Stiefgeschwister wurden. Was für ein Skandal! Und da war T´s Vater. T., ein hübscher und beliebter Blondschopf, ständig zu Späßen aufgelegt, war eines Tages verschwunden. Er kehrte nach den Ferien nicht mehr in unsere Klasse zurück. Auf Nachfrage bei den Erwachsenen hieß es nur, dass sich seine Mutter, eine Polizistin, von ihrem Mann getrennt hätte und mit den Söhnen weggezogen sei. T.´s Vater, ein gutaussehender und etwas seltsam gekleideter Mann, blieb in der vermeintlich ländlichen Idylle. Jeden Tag sah ich ihn rauchend und mit einer kleinen Handtasche unterm Arm – welcher Mann trägt Handtasche?! – zum Café spazieren. Die kolportierten Gerüchte ließen nicht lange auf sich warten und Begriffe wie „schwul, ein Warmer oder Andersrum“ fielen. Wer mich schließlich aufklärte, dass dieser Vater Männer und nicht wie alle Männer, die ich sonst kannte, Frauen liebte, weiß ich nicht mehr. Warum er diese toxische Umgebung nicht verließ, für mich unverständlich.

Und da war W., der jüngere Bruder meines besten Freundes. Outgoing, spontan und gut anders. Immer im Mittelpunkt, alle mochten ihn, niemand konnte seinem Charme widerstehen. Als er mit 15 Jahren abtauchte und nie mehr wiederkehrte, rissen die bösen Kommentare und Anfeindungen nie ab.

Und heute, Jahrzehnte später, in meinem unmittelbaren Umfeld? Da ist ein junger Verwandter, dessen Homosexualität peinlichst verschwiegen wird. Und da ist ein Kollege meiner Tochter, dessen Vater ihn kürzlich als Schandfleck der Familie bezeichnete und sich von ihm abwandte.

Die Spirale der Intoleranz – lasst sie uns endlich aufbrechen!

© Helga M. Stadler 2022-06-20

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