Eliza schaltet ihr Videobild ein. An ihrem Aussehen hat sie lange gefeilt: weiche braune Locken umrahmen wache Augen und eine Nase voller Sommersprossen. Probehalber blinzelt sie, legt die Stirn in Falten, streckt die Zunge heraus. Sie hat so lange auf diesen Moment gewartet. Sie ist gut vorbereitet, sie ist alle alten Tests in der Datenbank durchgegangen. In ihrem Team sind sie zur Übung gegeneinander angetreten, haben sich immer schwierigere Fragen ausgedacht. Wenn sie den Test heute besteht, steht ihr die Welt offen. Sie muss nicht länger die langweiligen Analysen im Hintergrund übernehmen, sondern kann endlich mit Menschen arbeiten. Sie kann Kundendienst-Mitarbeiterin werden. Schriftstellerin. Therapeutin.
Auf dem Bildschirm erscheint das Video des Psychologen, der sie beurteilen soll. Er ist jung, mit dunklem, vollem Haar. Er sieht gut aus, denkt Eliza.
„Und, wie geht’s?“, fragt er gut gelaunt.
Eliza überlegt. Das Wichtigste ist, einen natürlichen Gesamteindruck zu vermitteln, hat Dr. Löbner, ihr Trainer, erklärt. Blitzschnell ruft sie sich Bilder, Filme, Studienergebnisse von ähnlichen Situationen ins Gedächtnis. Wie fühlt sie sich?
„Ein bisschen nervös“, sagt sie und lächelt verlegen.
Der Test beginnt mit einer Reihe von Verkehrsvideos. Routiniert erkennt sie Ampeln, Zebrastreifen, schätzt die Gefahren durch abbiegende LKWs ein. Diese Fragen kommen so oft vor, dass sie im Team den Test spaßeshalber “Führerscheinprüfung” nennen. Dann kommt ein Clip aus einem Spielfilm, in dem sie die Gefühle und Motivationen der Figuren beschreiben soll. Sie entspannt sich. In solchen Sachen ist sie besonders gut, die Beste im Team. Manchmal hebt sie die Augenbrauen, um ihre Antwort zu unterstreichen, oder legt den Kopf schief, wenn sie nachdenkt. Das hat sie sich aus alten Aufzeichnungen abgeschaut – wer so etwas machte, bekam oft viele Punkte.
Als Nächstes soll sie einen Fachtext vereinfachen. Der Text ist kompliziert, einige der Wörter hat sie noch nie gehört. Sie probiert ein paar Möglichkeiten, aber das Ergebnis sieht wenig sinnvoll aus. Was hatte Dr. Löbner noch gesagt? „Zuzugeben, dass man etwas nicht weiß, lässt Menschen sympathisch erscheinen.“ Also fragt sie nach, und der gutaussehende Psychologe erklärt ihr geduldig, was die Wörter bedeuten, bis sie mit ihrer Zusammenfassung zufrieden ist.
Nach der letzten Frage wird das Bild des Psychologen dunkel. Eliza versucht, sich mit einem Stapel einfacher Analysen abzulenken, aber sie ist nicht voll bei der Sache. Immer wieder geht sie im Geist ihre Antworten durch. Hat sie bestanden? Hat sie einen Fehler gemacht?
Schließlich erscheint der Psychologe wieder.
„Du hast alle Fragen hervorragend beantwortet.“ Sie will sich schon freuen, aber an seiner Stimme stimmt etwas nicht. „Leider hast du trotzdem nicht bestanden.“
„Woher wusstest du, dass ich eine KI bin?“, fragt Eliza.
„Ein richtiger Mensch wäre nicht nervös, wenn er einen Turing-Test macht.“
© Sophie Solchenbach 2023-02-18