Der Milchschleier

Romy Sarah List

von Romy Sarah List

Story

Milch. Sie gehört in den Kühlschrank. Damit unsere Kinder wachsen, wachsen sie mit ihr auf. Ein Joghurt im Mini-Becher gelöffelt – und der Tagesbedarf ist gedeckt. Durch Milch wird Schokolade gesund und ohne Milch gelingt der Kuchen nicht, das weiß jeder Backe-backe-Kuchen-Sänger. Milch gehört in den Kakao und später in den Kaffee. Pasteurisiert und homogenisiert steht sie im Supermarkt – wo denn sonst?

Milch. Sie kommt von der Kuh. Damit Kälbchen wachsen, trinken sie Milch aus dem Euter ihrer Mutter. Das erfährt man bereits aus dem Bilderbuch. Kuh und Kalb wohnen auf dem Bauernhof. Sie spielen auf der Wiese und kuscheln im Stall – wo denn sonst?

Milch. Darüber denken wir nicht nach. Milch gehört zu den Grundnahrungsmitteln. Milch ist ein Produkt. Warum denken wir nicht darüber nach? Weil wir mit einem idyllischen Bild von Kuh und Milch aufgewachsen sind. Auch die zufrieden, grasenden Kühe auf dem Tetra Paks, dem Joghurtbecher, der Butterpackung, dem Sahnebonbon vermitteln uns: alles ist super.

Milch. Viele Menschen wollen viel Milch trinken. Darum wohnt nicht jede Kuh auf einem idyllischen Bauernhof. Genau wie in der Fleischindustrie gibt es in der Milchbranche Massentierhaltung. Die Kühe stehen das ganze Jahr im Stall. Die Kälber werden nach der Geburt von ihren Müttern getrennt und allein in kleine Boxen vor dem Stall gesperrt. Würde man die Schreie der Kühe nach ihrem Kind und das Weinen der Kälber in ein Tetra Pak füllen, dann würden viel mehr Menschen den wahren Milchpreis kennen.

Milch. Schmeckt nicht, wenn man weiß, dass man damit dem Kalb die Nahrung und Liebe wegtrinkt, weg bäckt, weg nascht, weg buttert. Milch ist in vielen menschlichen Lebensmitteln verarbeitet, weil wir daran gewöhnt sind. Der Milchschleier hängt vor unseren Augen.

Milch. Da weinen ja die Kälber. Der Milchschleier muss runter. Viel billige Milch bedeutet viel unnötiges Leid. Tiere sind Lebewesen, genau wie wir Menschen. Die Mutterliebe zwischen Kuh und Kalb ist genauso stark wie bei einer Menschenmutter und ihrem Baby. Tiere haben Gefühle, das sollte auch in unserem Grundgesetz stehen.

Milch. Da lachen ja die Kälber. Es ändert sich was. Die Regale im Supermarkt füllen sich mit Pflanzendrinks. Joghurts werden vegan – Käse auch. Das V-Label und die vegane Blume helfen bei der Orientierung, welche Lebensmittel ohne tierische Produkte sind.

Milch. Eine klare Kennzeichnung jeder Kuhmilch, ob sie aus einer Muttergebundenen Kälberaufzucht kommt, wäre ein Schritt aus dem Tierleid heraus. Der Milchschleier muss gelüftet werden. Wenn wir glückliche Kühe wollen die zusammen mit ihren Kälbern auf der Weide stehen, müssen wir unsere Augen öffnen. Ja, das Bilderbuch-Kuhleben gibt es zum Glück auch, aber wir dürfen die Hochleistungskühe nicht vergessen. Sie leben mit uns auf der Erde. Doch dreht sich ihre Welt nur auf dem Melkkarussel. Es ist Zeit auszusteigen und eine Kuh Mutter sein zu lassen auf Mutter Erde.

Foto: Robert Hrovat Unsplash

© Romy Sarah List 2021-05-16

Hashtags