Der Moment der Stille

Finn Ridinger

von Finn Ridinger

Story

Ich hatte mich entschieden, nicht mehr zu kämpfen. Nicht mehr gegen die Blicke, nicht mehr gegen das Flüstern. Es war zu viel. Jeden Tag die gleiche Tortur. Jeden Tag die gleiche Leere. Am Anfang hatte ich noch gehofft, dass es irgendwann besser würde. Doch je mehr Zeit verging, desto klarer wurde es: Es würde nie besser werden. Ich war einfach nur ein Schatten, ein Nichts. Die anderen taten so, als wäre ich nicht da. Oder wenn doch, dann nur als Ziel. Ein Ziel, das man immer wieder treffen konnte. Ich ging zur Schule, um zu überleben. Nicht um zu lernen, nicht um Freunde zu finden. Einfach nur, um nicht aufzufallen. Der Unterricht war die größte Qual. Die Lehrer redeten, aber ich hörte nie richtig zu. Es war nicht wichtig. Was war schon wichtig, wenn du keinen Platz im Raum hattest? Wenn du nur der warst, der im Hintergrund verschwand? Der erste Blick, wenn du den Raum betrittst, ist der Blick der Ignoranz. Niemand fragte sich, wie es mir ging. Niemand fragte sich, ob ich überhaupt noch da war. Und das war okay. Ich wollte nicht, dass sich jemand fragte, was in mir vorging. Ich wollte einfach nur, dass sie mich in Ruhe ließen. Der Tag war wie immer. Der Unterricht verging in einer grauen Wolke. Am Mittag setzte ich mich allein in die Kantine. Keiner bemerkte mich. Ich spürte die Blicke auf mir, aber niemand kam zu mir. Niemand fragte, ob ich sitzen wollte. Und das war okay. Es war besser so. Am liebsten hätte ich das Gebäude einfach verlassen. Einfach weglaufen und niemals zurückkommen. Aber ich wusste, dass es nicht so einfach war. Also blieb ich, saß weiter da, starrte auf meinen Teller, als könnte er mir eine Antwort geben. Ein Bruchteil von Hoffnung. Ein Funken. Doch er kam nicht. Die Stunden zogen sich hin. Ich wollte den Moment vergessen. Ich wollte einfach nur, dass dieser Tag endet. Doch dann sah ich ihn. Lukas. Er kam mit seinen Freunden vorbei, wie immer der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Ich spürte, wie mein Herz einen Schlag aussetzte. Er hatte mich gesehen. Ich wusste, was kommen würde. Die Gruppe hielt kurz an. Lukas grinste. „Na, Loser? Wie geht’s so im Abseits?“ Es war der gleiche Spruch wie immer. Der gleiche Tonfall. Die gleiche Häme. Doch irgendetwas war anders. Irgendetwas in mir brach. Vielleicht war es der Moment, in dem ich realisierte, dass es keine Rettung gab. Vielleicht war es die Erkenntnis, dass sie nie aufhören würden. Und ich? Ich konnte nichts tun. Nichts außer dasitzen und abwarten. Der Schmerz war stumm. Lautlos, aber er war da. Immer. „Nichts zu sagen, Max?“, hörte ich Lukas wieder sagen. Doch dieses Mal reagierte ich nicht. Ich wusste, dass alles, was ich sagte, sowieso nicht zählte. Alles, was ich tat, würde nur noch mehr Lachen ernten. Und so saß ich einfach nur da, stumm. Und die Stille um mich herum war die einzige Antwort, die sie jemals von mir bekommen würden. Vielleicht war das die schlimmste Strafe. Nicht das Schreien, nicht das Weinen. Sondern die Stille, die alles erstickte. Die Stille, die mir die Luft nahm.

© Finn Ridinger 2024-12-25

Genres
Spannung & Horror
Stimmung
Abenteuerlich, Dunkel, Emotional