von Lucien Knauer
Chaos brach aus. Der Schreiner, der noch am Vortage an der Mühle zu Werk war, lag nun sterbend in seinem Bett und sein Sohn gleich nebenan. Der Stadtherr und Pfarrer meldeten sich auf dem Marktplatz zu Wort und gebarten den Bürgern, Ruhe zu bewahren. Die Menge war aufgepeitscht und wütend. Jetzt gilt es, für unsere Sünden Buße zu tun, gelobte der Pfarrer. Ein Flagellantenmarsch zog durch die Stadt, die sich die Leiber hieben. Der Herrgott sollte mit Selbstgeißelung besänftigt werden.
Doch nicht alle waren damit zufrieden. Paranoia sprach durch sie, und wilde Theorien brauten sich in der Menge zusammen. Schließlich rief einer, es soll ein Jude gewesen sein, sicherlich, der das Trinkwasser vergiftet hat. Dieser Spruch fand Beifall, viele der Anwesenden schienen begierig darauf, einen Sündenbock gefunden zu haben. Der Stadtherr bat um Ruhe und besänftigte die Menge, es gäbe keinen Beweis für eine solche Anschuldigung. Doch die Menge zog bereits los in Richtung Synagoge. Wenig später hatte die Menge bereits einen möglichen Schuldigen aufgespürt, einen Geschäftsmann. Ein Prozess weniger Tage folgte, und schließlich hinterging der Mann seinen Glaubensgenossen und log um seine Freiheit. Er sagte aus, er habe den Müller gesehen, wie er Gift im Trinkwasser platzierte, und dass dieser ihm Zusammenarbeit angeboten hatte, die er natürlich tugendhaft ablehnte. Der Missetäter würde sich nun in seiner Mühle verstecken, verschont von der Plage. Dieses Geständnis wurde ihm zweifellos unter Folter entlockt. Wenig später zog die rastlose Meute los, um den Schuldigen zu strafen. Sie zogen unter des Schreiners Fenster her, dessen Frau ihnen wehmütig nach sah. Sie hielt die Totenwache am Bett ihres Mannes.
Der Müller bereitete sich indessen ein bescheidenes Abendmahl. Er schreckte auf, als ein Sturm von Fäusten an seiner Tür anschlug. Stimmen schrien durcheinander. Verwirrt schritt der Müller zur Tür, die ihm praktisch aus der Hand gerissen wird, als er sie entriegelt. Die Menschen brachen auf ihn ein wie eine Flutwelle, rissen ihn zu Boden und entblößten seine Leisten. Sie sahen weder Pestbeulen noch andere Zeichen, und so war sein Schicksal besiegelt. Trotz Protest wurde der Müller aus der Mühle gezerrt und zur Stadt gebracht. Zu seinem Schrecken nicht zum Marktplatz – sondern zu einem Feld außerhalb der Tore. Dort stand hastig ein Scheiterhaufen aufgetürmt. Er hörte die Menschen, sie nannten ihn einen Frevler, einen Giftmischer, einen Ketzer. Und noch bevor der Müller überhaupt wusste warum, da war er schon an den Brandpfahl gebunden. Da schrie er der Ungerechtigkeit entgegen, er sei nur ein einfacher Müller, er würde niemandem Leid tun, nur weil er ein Jude war – sie könnten ihn nicht ohne Prozess richten! Doch sie wollten nicht hören, sie nahmen das Feuer und steckten den Müller in Brand. In der Ferne stiegen ebenso Rauchsäulen empor, scheinbar aus jeder Stadt.
© Lucien Knauer 2022-08-29