Der Nachtfalter

Felix Kraus

von Felix Kraus

Story

Mitten in der Nacht leuchtet es noch warm aus einem der Fenster. Doch es ist zu. Meine matten Flügel schlagen gegen das zentimeterdicke Glas, doch für das Glas ist es nicht mehr als ein Streicheln. Meine Beinchen sind ihm nicht mehr als ein Kitzeln, wenn ich über seine harte, spiegelglatte Oberfläche krabble. Darin sehe ich mich selbst. Wie ich auf der anderen Seite der Scheibe sitze und mir selbst in meine facettenreichen Augen schaue.

So gerne käme ich hinein, würde dem Licht nahekommen und die Finsternis aussperren. Frei bin ich durch diese Finsternis geflogen, bis ich auf dieses Fenster traf und mich in seinen Schein verliebt habe. Doch hinter der Scheibe wartet nur Verderben auf mich. Viele haben mich davor gewarnt. Deshalb verstecken sie sich alle, verkriechen sich in die dunkelsten Laubhaufen und Mauerritzen aus Angst, diesem Licht zu begegnen. Nur ich bin draußen geblieben, um meine Freiheit zu leben – und bin nun gefangen von meiner ungebändigten Sehnsucht. Aber würden sie einmal selbst dieses Licht erblicken, sie würden genauso mit mir am Fenster auf und ab flattern, hätten alles vergessen, was ihnen einst erzählt worden war, sogar was sie selbst anderen darüber gepredigt hatten. Sie würden so sehr hoffen, dass das Fenster irgendwo um einen Spalt offensteht, und gleichzeitig beten, dass es keinen gibt; denn fürchten sich davor, ihn irgendwann zu finden und die Welt, wie sie sie kennen, für immer hinter sich lassen zu müssen. Ja, müssen.

Ich habe einmal eine weise Wanze getroffen, die war angeblich schon hinter den Fenstern gewesen und irgendwie wieder zurückgekehrt. Wanzen sind angeblich Experten was das Vordringen in die Welt hinter den Fenstern betrifft, was sich vor allem dadurch zeigt, dass man sie in der Regel nie wieder sieht, wenn sie sich einmal auf den Weg gemacht haben. Doch diese Wanze war wieder zurückgekehrt. Als ich sie einmal fragte, wie es so auf der anderen Seite war, antwortete sie nur: „Stille. Leblose, trockene Stille.“ Und nach einiger Zeit fügte sie noch mit zuckenden Fühlern hinzu: „Und … ohrenbetäubendes Donnern.“ Ich fragte nach, was es mit diesem mysteriösen Licht auf sich hatte und was es dort noch alles zu sehen gab. Da sah sie mich mit einer Mischung aus Mitleid und Traurigkeit an und erwiderte folgendes: „Wer es einmal hinter die Fensterscheibe schafft, findet, was er finden wollte. Aber früher oder später sitzt man wieder an derselben Scheibe, so wie früher, nur auf der Innenseite. Man sieht dahinter die Sonne am Himmel stehen und wünscht sich, man könnte ihr entgegenfliegen. Wir werden immer an einer Scheibe sitzen und auf die andere Seite wollen, solange wir leben, ob draußen oder drinnen – ganz egal.“

All das geht mir durch meinen kleinen Kopf, der immer wieder gegen die spiegelglatte Oberfläche schlägt in der Hoffnung und in der Angst, endlich ohne Widerstand in die Welt meiner Träume zu gelangen. Ich kann nur darauf hoffen, dass irgendwann ein großes Licht auf meiner Seite der Scheibe aufgehen und die ganze bunte Welt so hell erleuchten und mit Leben erfüllen wird, dass es lächerlich erscheint, hinter einem so kleinen Fenster je das Glück gesucht zu haben. Ich weiß, dass es passieren müsste – aber warten kann ich nicht.

Wann wird mich die Sonne endlich von meinem Irrsinn befreien?

© Felix Kraus 2024-04-13

Genres
Romane & Erzählungen, Lebenshilfe
Stimmung
Dunkel, Hoffnungsvoll
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