von Josef Peneder
Wir hatten damals in der Volksschule ein paar Monate lang einen Mitschüler, der ungeheuer fett war. Er hatte schwarze Locken, ein breites Vollmondgesicht und drei Kinne, die bei jeder Bewegung wabbelten. Er tat mir vom ersten Augenblick an leid, denn er wurde natürlich bei jeder Gelegenheit aufs Grausamste verspottet, und zwar nicht nur von den üblichen selbstgefälligen Schwachköpfen, sondern auch von den stillen Duckmäusern, die wie feige Ratten aus den Löchern quollen, um mitzumachen bei dieser Treibjagd.
Seine Mutter, so erklärte unser Lehrer einmal, sei Opernsängerin und habe ihrem Sohn natürlich manches beigebracht. Und tatsächlich schritt dieser gequälte und verspottete kleine Bursche mit einem gewissen Stolz auf die Bitte des Lehrers hin nach vorn und begann eine Stelle aus einer Oper zu singen, auswendig, laut, gut, selbstbewusst. Dazu vollführte er tänzelnde Bewegungen, breitete die Arme aus und warf uns, dem Publikum, zum Schluss schmachtende Kusshände zu. Wir waren beeindruckt, aber einig in unserem Urteil: Der ist nicht normal!
Ich bewunderte seinen Mut. Er war von sich überzeugt, er schien einen Lebensbereich zu besitzen, der sich den Niederungen seiner tagtäglichen kläglichen Demütigungen entzog, er war frei. Dadurch polarisierte er. Man konnte ihn bewundern, sein Talent anerkennen, heute hätte er auf Youtube und Facebook oder in einer der vielen Talenteshows sicher große Erfolge. Damals waren wir nichts als ein Häuflein Feiglinge. Keiner von uns hätte es gewagt, mit sieben Jahren vor die Klasse zu treten und zu singen. Keiner von uns hätte so einen Auftritt zustande gebracht. Daher musste er verspottet werden, ausgestoßen, bei jeder Gelegenheit daran erinnert werden, dass die dumpfe, grausame Masse stärker ist und keine Außenseiter duldet und keine andere Meinung.
Ich bin heute noch stolz darauf, dass ich damals nicht mitgeschrien habe bei den Verspottungen, dass ich Mitleid empfand, dass mir graute vor dem Gedanken, ich könnte an seiner Stelle sein.
Jener dicke Knabe hatte diese Bürde zu tragen, durch seine Kindheit hindurch, dazu verdammt, schon auf den ersten Blick anders sein zu müssen. Die Schuld liegt eindeutig bei denen, die mit dem Finger auf ihn zeigen, die lachen, spotten, ihn verachten. Sie tun es aus freiem Willen, wenn auch in dem engen Korsett anerzogener gesellschaftlicher Normen, aber sie müssen nicht so handeln. Sicher ist für die meisten die reine Feigheit der Grund, die uneingestandene Erkenntnis der eigenen Unzulänglichkeit. Aber wie es für die Masse Rädelsführer braucht, die sich diese Feigheit zunutze machen für ihre Zwecke, so bedarf es auch charakterfester Persönlichkeiten, die Zivilcourage zeigen, die aufstehen und deutlich sagen: „Mit mir nicht!“
In der Volksschule kann man solche Reife noch kaum erwarten, aber so mancher Grundstein wird hier gelegt.
© Josef Peneder 2020-09-29