Der Orangenbaum

Marlene Klaus

von Marlene Klaus

Story

Ich habe einen Orangenbaum vor der Tür.

Jedes Mal, wenn ich nach Italien reise, habe ich einen Baum vor der Tür, der mich behütet. In der Toskana war es ein Feigenbaum. In Apulien eine Palme.

Daheim ist es ein Haselnussbaum. Manchmal denkt man Dummes. Was macht er ohne mich, da ich nicht da bin? Was macht er ohne dich, Mama, die du nicht mehr da bist?

Wind fegt durchs Geäst des Orangenbaumes. Die länglich wächsernen Blätter stieben durcheinander wie kleine grüne Pfeile. Die letzten Früchte baumeln an den Ästen. Ich fühle mich fremd.

Das Leben folgt eigenen Gesetzen, sagt man.

Welchen?

Wozu braucht es Verlorenheit? Verloren daheim, nachdem du gingst.

Unvertraut ist alles hier. Überirdisch leuchten die Bougainvillea. In einem Rot und Rosa, das es gar nicht geben kann. Orangen- und Zitronenbäume. Mich dauern jene Früchte, die von überhängenden Ästen auf die Gassen unter den Mauern geplatzt sind. Es gibt viele Mauern auf der Insel. Und es dauert mich viel in diesen Wochen. Zuhause wird nie mehr sein wie zuvor. Du warst Zuhause. Alles dort trägt deine Handschrift. Atmet noch immer deinen Duft. Selbst auf die Distanz kann ich ihn riechen.

Im Garten hinter dem Orangenbaum gackern Hühner. Ein Garten hier, ein Garten zu Hause. Gut für meine Seele, sagtest du.

Ich schaue hinaus.

In der Wohnung über meinem Zimmer singt die Putzfrau ihre Lieder von amore.

Ich lausche hinauf.

Später treffe ich sie auf der Veranda hinterm Haus, wo sie, sich die Füße vertretend und eine Orange mampfend, umhergeht. Alt ist sie und klein und runzelig und vorne hat sie nur noch zwei riesige gelbe Zähne in der oberen Zahnreihe.

Ich sage ihr, dass ich sie immer singen höre und mir das gefällt, ja.

Ja, nickt auch sie, ich singe immer. Es ist besser zu singen, als zu weinen.

Manchmal muss man auch weinen, antworte ich, die ich in Gedanken an Mama und an den Tod viel weine.

Sie winkt ab, sicher, auch weinen gehört zum Leben. Doch ich singe lieber. So bin ich gemacht, sagt sie. Und sie streckt die Hände gen Himmel und ruft: Und ich singe, weil der Herr mich liebt.

Mir schießen Tränen in die Augen. Nie habe ich eine schönere Begründung für das Singen gehört.

Sie berührt meine Hände. È una brava donna!

Für einen Augenblick wird es warm und nah. Für einen Augenblick ist es hier gut, wie es ist.

Zwei Wochen später steht mein Koffer gepackt in der Tür und ich warte auf das Taxi, das mich zum Hafen bringt. Sie kommt extra herunter, um sich von mir zu verabschieden. Sie nimmt mich in die Arme. Mir ist wehmütig.

Noch einmal sprechen wir vom Singen. Es helfe, nicht verrückt zu werden, sagt sie. Sie greift sich mit beiden Händen an den Kopf: Dadrin gehen zu viele Dinge um, davon kann man doch nur verrückt werden! Dagegen hilft das Singen!

Wir lächeln uns an.

Ich werde mich immer an Sie erinnern, sage ich.

Vielleicht sehen wir uns wieder, eines Tages, sagt sie.

Ich gehe.

Ciao, Orangenbaum, flüstere ich. Ich werde den Haselnussbaum von dir grüßen.

Im Taxi singe ich leise ein Lied von amore.

© Marlene Klaus 2021-04-05

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