von Marianna Vogt
Wolfi arbeitete während der zweiten Jahreshälfte in einem Callcenter und machte unzählige Überstunden. Die Arbeit bereitete ihm keine Freude, aber er verdiente gutes Geld welches er während der Sommermonate nötig hatte um zu überleben.
Bald war es wieder so weit. Dieses Jahr hatte er weniger Geld zusammen wie die vergangenen Jahre. Er machte sich deshalb große Sorgen. Seine Mutter riet ihm, irgendwo als Straßenkünstler aufzutreten.
«Ach Mama, ich weiß, du meinst es immer gut mit mir und hast stets tolle Ideen. Aber ich habe doch überhaupt kein Talent. Ich kann weder singen noch brilliere ich mit irgendwelchen akrobatischen Einlagen.»
«Stell dich auf einen Sockel und verteile den Damen Handküsschen. Du wirst sehen, die fahren darauf ab und …»
«Mama, bitte, du hast auch schon gscheiter daher gredet», unterbrach Wolfi sie.
«Na dann eben net,» entgegnete sie gekränkt.
Während Wolfi hoffnungsvoll durch die Marktstände des Flohmarkts streifte, dachte er an das Gespräch mit seiner Mutter. An einem Stand, der Kostüme des 18. Jahrhunderts anbot, blieb er stehen.
«Ein Gewand gefiel ihm besonders gut. Es erinnerte ihn an Wolfgang Amadeus Mozart. Er dachte nach, wie er sich damit in Szene setzen könnte. Er könnte als schneeweißer Pantomime auftreten. So würde er auch bei großer Hitze nicht so schnell ins Schwitzen kommen.
Jetzt war Wolfi nicht mehr zu bremsen. Sofort probierte er die Kleider an. Diese saßen ihm wie angegossen. Er eilte nach Hause, schnurstracks in die Werkstatt seines Vaters. Mit der Farbpistole besprühte er mit weißer Farbe die Kleider und die Schuhe.
Im Schrank mit den Faschings-Accessoires fand er weiße Handschuhe und die Schminke.
Bei Urlaubsbeginn packte er den Koffer und zog los.
In Lindau-Insel angekommen flanierte er der Uferpromenade entlang. Als Wolfi glückselig die unzähligen Boote auf den Bodensee erblickte, stolperte er mit seinem rechten Fuß über einen Gegenstand. Als er hinsah, entdeckte er einen vergessenen weißen Sockel. Prima, den kann ich ganz gut gebrauchen, dachte er und platzierte ihn in die Mitte des Gehwegs. Vor den Tritt stellte er eine Schatztruhe hin, dort hinein konnten die Touristen die Münzen werfen. Wolfi positionierte sich auf dem Fußtritt und kniff die Augen zu. Jedes Mal, wenn jemand Geld in seine Schatztruhe warf, öffnete Wolfi die Augen und pfiff einen langen Ton. Dann bedeutete er der Person mit dem Zeigefinger zu ihm zu kommen. Den Männern schüttelte er kräftig die Hand, den Frauen verteilte er einen Handkuss. Beim Weggehen winkte er ihnen freudig zu.
Wolfis Geschichte ist frei erfunden. Aber der pfeifende Pantomime habe ich tatsächlich in Lindau angetroffen. Ich saß ihm in einem Restaurant gegenüber und habe mich köstlich unterhalten. Seine Handlungen waren genauso, wie ich sie in der erfundenen Geschichte beschrieben habe. Wie lange er wohl in Lindau bleiben wird? Im September bin ich ein weiteres Mal in dieser wunderschönen Stadt am Bodensee. Ob ich den weißen Mann ein weiteres Mal antreffen werde und er sich mit einem charmanten Handkuss für meine Münze bedanken wird?
© Marianna Vogt 2023-07-24