von Philipp Von Bose
Vergeblich versuche ich mich an den Tag zu erinnern, an dem es anfing zu regnen. Auch kann ich mich beim besten Willen nicht entsinnen, wann ich das letzte Mal die Sonne auf-und niedergehen sah. Es fehlt das Licht.
Betrübt setze ich meinen Spaziergang fort. Jeden Schritt, den ich tue, überhaupt jede Bewegung meines Körpers, scheint isoliert und fremdartig. Der nie angefangene und nicht endende Regen scheint in der Luft zu stehen. Zwar höre ich die sonst so wohltuenden Klänge der hinabfallenden Wassertropfen, doch der Boden bleibt trocken. So auch meine Haare, mein Mantel, meine Hose und meine Schuhe. Wenn ich meine Schritte zähle, wenn ich sie ständig zähle und meinen Blick nicht hebe, dann kann ich für wenige Augenblicke vergessen. Vergessen, warum die Sonne nicht scheint, vergessen, warum der Regen nicht fällt, vergessen, warum alles grau und leblos ist, vergessen, warum ich hier bin.
Ich zähle Einhundert Schritte.
Keine Menschen auf den schier unendlich verlaufenden Straßen. Ich könnte sie ohnehin nicht sehen. Mein Blick ruht auf dem Boden und ich zähle weiter; ohne Gespür in meinen Füßen.
Ich zähle Zweihundertfünfzig Schritte.
Auch wenn ich es vermeiden will, hebe ich dennoch manchmal den Kopf. Diesmal sehe ich etwas. Eine Andeutung von Farbe in der sonst so grauen Ferne. Ein Farbfleck, das ist neu, doch schon bald wieder verblasst. Manchmal bilde ich mir ein, etwas Kaltes zu spüren. Einen Windzug vielleicht, oder sogar den Regen?
Ich zähle Vierhundertfünfzig Schritte.
Wann ich das letzte Mal gelacht habe, weiß ich nicht mehr. Gesprochen ja, aber nie hier. Mit wem sollte ich auch sprechen? Trotz der mir eigentlich bewussten Sinnlosigkeit, rufe ich laut: “Hallo!?”. Das Echo meiner Stimme hört sich mit jedem Mal fremder an. Ich habe Angst und möchte diese fremde Stimme nicht mehr hören. Lieber keinen Laut geben, wozu auch?
Ich zähle Siebenhundert Schritte.
So viele Schritte und doch scheine ich keinen Meter vorangekommen zu sein. Es fühlt sich so an, als würde ich die ganze Zeit über im Kreis laufen, obwohl ich stets nach vorne gehe. Noch einmal bleibe ich stehen und schließe diesmal meine Augen, in der Hoffnung, dass diese ausgestorbene Stadt und ihre fensterlosen Gebäude vielleicht doch nur das Produkt meiner Fantasie sind. Ja! Das alles muss ganz einfach ein furchtbarer Traum sein. So fest ich nur kann, so fest es nur irgendwie geht, kneife ich meinen Arm. Kein Erwachen. Ein stechender Schmerz bleibt. Ich verliere alle Hoffnung. Ich spüre meinen Körper für wenige Augenblicke.
Ich zähle Eintausend Schritte.
© Philipp Von Bose 2022-06-14