von Philipp Von Bose
“Wo bin ich?”, frage ich den kleinen Jungen und merke, dass meine Stimme zittert und es mich fröstelt. “Weißt du das denn nicht? Aber du müsstest es doch am besten wissen.”, sagt der kleine Junge und fängt wieder an zu kichern. Seine Stimme ist warm und freundlich. Trotzdem wird mir immer kälter. Ich gehe nicht weiter auf diese Antwort ein und frage stattdessen: “Wer bist du?” Das Menschlein sieht mich etwas entgeistert an und sagt mit hoher knabenhafter Stimme: “Ich bin du. Sieh mich doch mal richtig an. Wir beide sind derselbe Mensch.” Mit aufgerissenen, fassungslosen Augen starre ich ihn an und weiß nicht, ob ich schreien soll. Eine fremde Hand scheint mein Herz festzuhalten, denn ich kann es nicht mehr spüren. Flucht! Ich muss weg, ganz schnell weit weg! Hauptsache ich muss dieses Kind nicht mehr sehen. Meine Beine sind wie angewurzelt. Meine Gedanken fliegen und schwirren mir weiter im Kopf, ohne dass ich einen von ihnen zu fassen bekomme. Und obwohl ich tief erfüllt von Angst und Kälte bin, weiß ich, dass dieses Kind die Wahrheit spricht. Doch noch bevor ich etwas sagen kann, läuft das Kind, läuft meine Kind-Gestalt, fort und ruft, dass ich ihm folgen solle. Wie magnetisch angezogen laufe ich hinter ihm her, trotz meines eigentlichen Wiederwillens. Überrascht stelle ich fest, dass der Lichtschein der Lampen dem kleinen Kind folgt und mich die Dunkelheit zu verschlucken droht, wenn ich nicht auf seiner Höhe mit ihm weiter laufe. Meine Ausdauer scheint plötzlich grenzenlos, denn nun habe ich ein Ziel vor Augen: ich möchte wissen, was dieser kleine Junge mir zu sagen hat und wo er mich hinführt.
Während wir unseren Weg fortsetzen, scheint sich die Welt um uns herum erneut zu verändern: der Asphalt der Straße wird brüchiger und einzelne Grashalme und kleine Bäume strecken ihre so lang begrabenen Köpfe in die Luft; ein sanfter kühler Wind kommt auf und fährt mir wie die unsichtbare Hand einer lang vergessenen Liebe durch die Haare; das kalte, elektronische Licht über meinem Kopf flackert noch ein letztes Mal, bevor es schließlich verblast und Platz für das Licht des wohl vollsten, schönsten und hellsten Mondes macht, der langsam, aber stetig am Himmel emporsteigt.
© Philipp Von Bose 2022-10-21