von Susanne Sayici
Meine Großeltern hatten nach dem 1. Weltkrieg ein Haus gebaut. In der Friedensstadt. So nannte man die neue Siedlung später und man glaubte, es würde nie wieder einen so schrecklichen Krieg geben, wie den 1. Weltkrieg. Soldaten hatten sich Grundstücke angeeignet, nachdem der Krieg verloren und der Adel vertrieben worden war. Ehemaliges kaiserliches Jagdrevier wurde nun bebaut und in den Gärten wurde Gemüse gepflanzt. Die Not der Bevölkerung war unvorstellbar. Ein Heer an Arbeitslosen, die ausgesteuert waren, suchten vergeblich nach Arbeit. Ausgesteuert bedeutete, sie bekamen kein Arbeitslosengeld und auch sonst keinerlei Sozialhilfe. Diese armen Menschen kamen meistens über die Runden, indem sie stahlen und raubten. Dieses Schicksal blieb den Großeltern erspart. Wenigstens hatten sie ein Dach über dem Kopf und ein Stück Boden, den sie bebauen konnten. Der Großvater fand im Sommer immer Arbeit. Meistens am Bau, wo er als Zimmermann tätig war. Die Großmutter bekam von ihrer Familie, die viele Felder besaß, jedes Jahr einen großen Sack Kartoffeln. Sie strickte und nähte für sich und die Kinder. Wie alle Familien in der Siedlung hielten sie Hühner. Mit Eiern und Fleisch waren sie somit versorgt. Reich waren sie nicht, aber sie hatten genug zu essen.
Einfach nur Hühner halten, war ihnen nicht genug. Sie traten dem Kleintierzüchterverein bei. Stolz präsentierten sie ihren Hahn. Er war bunt und groß wie ein Adler. Zum ersten Mal in ihrem Leben gewannen sie einen Preis. Der prächtige Hahn erregte Aufsehen und wurde zum Sieger erklärt.
Die armen, hungernden Menschen, wollten natürlich auch Eier und Fleisch essen. Immer wieder wurde in der Siedlung eingebrochen. Einmal verschwand dort ein Huhn, dann da. Die Siedler hatten keine Chance, die Diebe fernzuhalten. Die Großeltern zitterten um ihren Hahn. Er war ihr ganzer Stolz. Ein Garant für gute, gesunde Nachkommen. Würden Diebe ihn töten? Immerhin war er sehr groß, was eine besondere Verlockung darstellte. Sie mussten damit rechnen. Eines Tages war es dann auch tatsächlich so weit. Mitten in der Nacht schrak der Großvater auf. Die Hühner gackerten laut, seltsame Geräusche waren zu hören. Jemand schrie. Opa lief hinaus in den Garten. Da kam ihm ein verzweifelt gestikulierender Mann entgegen. „Hilfe! Hilfe“, schrie er. Offenbar wollte er etwas abschütteln, was ihm jedoch nicht gelang. Der riesige Hahn saß auf den Schultern des Diebes und hackte mit dem Schnabel immer wieder auf dessen Kopf. Erst als der Misshandelte den Vogel unfreiwillig zu weit von den Hühnern weg getragen hatte, ließ das Tier von ihm ab und kehrte zurück in den Stall. Der Sieger ließ sich von seinen gefiederten Schützlingen, denen er das Leben gerettet hatte, feiern. Fröhlich gackerten sie noch einige Zeit, dann kehrte wieder Ruhe ein.
Offenbar sprach sich dieses Erlebnis unter den Dieben herum, denn ab diesem Zeitpunkt wurde bei uns nicht mehr eingebrochen. Die Nachbarn waren begeistert. Jemand hatte eine geniale Idee. Man borgte sich den Hahn von Zeit zu Zeit aus. Die Diebstähle wurden schon bald seltener und nach einiger Zeit hörten sie ganz auf.
© Susanne Sayici 2024-04-01