Der Prozess

Wolfgang-Arnold Müller

von Wolfgang-Arnold Müller

Story

Der Gerichtssaal war proppenvoll. Mein Anwalt hatte mich auf das immense öffentliche Interesse des Falls vorbereitet. Ein Justizbeamter führte mich durch die Seitentür herein und ich nahm neben meinem Anwalt Platz. Verstohlen sah ich Alexander an, der in der vordersten Reihe saß. Mein Schwiegervater und seine Lebensgefährtin sowie Dr. Schmid, der wahre Schuldige in meinen Augen, waren als Zeugen geladen. Auch Gregor Reisiger, der die Polizei in dieser verhängnisvollen Nacht verständigt und mich wegen häuslicher Gewalt angezeigt hatte. Nach ein paar Minuten kamen die Richterin und der Staatsanwalt zum Podium und begrüßten das Plenum. Die Richterin, eine große, dunkelhaarige Frau mittleren Alters, las den Sachverhalt und die Anklagepunkte vor. Ich wurde beschuldigt, meine Frau mit einem Faustschlag getötet zu haben. Ob es sich um Vorsatz oder doch vielleicht um Notwehr gehandelt haben könnte, gälte es zu klären. Der Staatsanwalt kam ohne Umschweife zu der Feststellung, dass es aufgrund der Beweislage klar wäre, dass ich unter Vorsatz Alexa getötet hätte. Ich hätte sie aus purer Eifersucht während eines heftigen Streits mit einem überaus kräftigen Fausthieb niedergeschlagen, nachdem ich ihr ihre sexuelle Beziehung zu ihrem Chef Roger Schmid vorgeworfen hätte. Kaltblütig hätte ich dadurch ihren Tod in Kauf genommen. Nach dessen Statement erläuterte mein Anwalt seine Version der Notwehr. Die Forensiker hatten herausgefunden, dass Alexa tatsächlich den Hals der Weinflasche so umklammert hatte, um einen Schlag ausführen zu können. Diesen hätte ich mit meiner Armbewegung abgewehrt und sie unabsichtlich so am Kinn getroffen, dass sie rückwärts umfiel, mit dem Hinterkopf aufprallte und sich einen Schädelbruch zufügte, an dem sie letztendlich auf dem Weg in die Klinik verstorben wäre. Robert Holton kam als Nebenkläger zum Zeugenstand. In seinem Gesicht war die Trauer um den Verlust seiner geliebten Tochter tief eingegraben. Er kam als US-Soldat im Kalten Krieg nach Bayern, lernte eine deutsche Frau kennen und blieb, wie so viele seiner Kameraden, in Deutschland. Ich wusste nicht allzu viel von diesem Mann, der seine Frau vor Jahren durch einen Unfall nahe ihrem Wohnort am Ammersee verloren hatte, als Alexa noch ein Kind war. Die beiden verloren kein Wort darüber. Jahre später zogen sie zu seiner neuen Partnerin nach Königstein. Robert war ein bescheidener und ehrlicher Mann, der sich immer um die Belange seiner Tochter kümmerte. Als Alexa mich ihm vorstellte, umarmte er mich und ich musste ihm das Versprechen abnehmen, gut auf seine Tochter aufzupassen. »Sie ist zwar erwachsen, aber trotzdem noch ein Kind. Der Verlust ihrer Mutter hat ihr sehr lange zugesetzt. Ich hoffe, dass du das verstehst.« Natürlich versprach ich ihm, auf sie aufzupassen und immer für sie da zu sein. Ich war noch nie in meinem Leben so verliebt gewesen und in diesen ersten Jahren unserer Beziehung wäre ich für sie durch das schlimmste Feuer gegangen. Jetzt stand dieser ehemalig aufrecht stehende Soldat in gebückter Haltung vor mir und schwor, nichts als die Wahrheit zu sagen. Aber welche Wahrheit? Robert blieb stehen und sagte: »Ich habe diesen Eid abgelegt, um ein Geheimnis zu brechen. Möge meine Tochter mir verzeihen.«




© Wolfgang-Arnold Müller 2025-01-27

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Romane & Erzählungen
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