Der Rattenschwanz

Gabriele_Krele-Art

von Gabriele_Krele-Art

Story

Es war ein kleiner Nager
mit samtig weichem Fell,
die Pfötchen zart und zierlich,
das Näschen wach und hell.

Das Kind war ohne Vorurteil,
auch wenn er Ratte hieß,
war er geschickt und klug zugleich
und sich als treuer Freund erwies.

Die Freundschaft wuchs von Tag zu Tag,
das Kind vergaß wohl ganz
im Spiel und in Gedanken
den langen, nackten Schwanz.

Als meine Tochter 14 Jahre alt war, wünschte sie sich sehnlichst ein Haustier. Nein, kein Meerschweinchen. Das hatten wir schon, als sie noch im Kindergarten war. Weder Katze noch Hund waren in ihrem Sinn. Sie wünschte sich eine Ratte. Alle meine Gegenargumente wusste sie gekonnt zu widerlegen, bis ich letztendlich einwilligte. Wenige Tage später zog Josi bei uns ein. Natürlich oblag die gesamte Pflege und Fütterung unserer Tochter, bis zu jenem Tag, an dem sie für einige Wochen auf Sprachreise nach Dublin flog. „Stell den Käfig ins Wohnzimmer, damit ich nicht aufs Füttern vergesse“, bat ich, und von dort wanderte die Ratte nicht wieder zurück in ihr Zimmer. Josi wurde zum Liebling aller. Je mehr wir uns mit ihr beschäftigten, umso mehr erkannten wir, wie zutraulich und intelligent dieser Nager war. Viele unserer Besucher ekelten sich vor seinem langen, nackten Schwanz und hatten die graue Kanalratte vor Augen, oder die Wanderratte, die mit ihren Flöhen im Mittelalter die Pest nach Europa gebracht hatte.

Es gab aber genauso viele Menschen, die ihre Vorurteile überwinden konnten. Ich erinnere mich noch gut daran, dass ich ankündigte, Josi ins Klassenzimmer mitzunehmen, als ich in Biologie die Nagetiere besprach. Die Rattendame liebte es, in meinem weiten Pulloverärmel zu sitzen. Als ich ohne Käfig das Klassenzimmer betrat, war den Kindern die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben. „Sie haben doch versprochen, dass Sie….“. „Ja, habe ich“, kam ich ihnen zuvor, „Josi begleitet mich doch!“ Ich hob meinen Arm und gewährte Josi einen Blick ins Klassenzimmer und den 25 Kindern einen Blick auf Josi, die ihr Köpfchen neugierig aus meinem Ärmel streckte. Jeder wollte die Ratte streicheln, die Mutigen ließen sie sogar auf ihre Schultern klettern.

Fast 30 Jahre später stand meine Tochter vor der gleichen Entscheidung: Welches Haustier ist wohl das geeignetste für ihren Sohn Winni. Erraten! Nein, nicht eine Ratte, sondern gleich zwei, denn so sieht es ein neues Gesetz vor. Die sozialen Tiere dürfen nicht mehr als Einzeltiere gehalten werden. Fred und Joe bekamen ein Luxus-Zuhause mit vielen Klettermöglichkeiten, mit kleinen Kokosnuss-Häuschen und großem Holzhaus. Eine Hängematte lädt zum Schaukeln ein. Am liebsten fressen die dämmerungsaktiven Tiere gekochten Brokkoli-Strunk, Karotten und Brot. Kürbiskerne ziehen sie den Sonnenblumenkernen vor. Das absolute Highlight sind Löwenzahnblätter. Für sie lassen sie jeden anderen Salat links liegen. Winni liebt seine beiden Ratten, Uroma schüttelt sich vor Ekel. Wie auch immer ihr darüber denkt: Fred und Joe sind entzückend. Davon konnte ich mich zu Ostern überzeugen.


© Gabriele_Krele-Art 2024-04-05

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Romane & Erzählungen
Stimmung
Emotional, Inspirierend
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