Der Raum zwischen den Tasten

Seit ich zurückdenken kann, steht der Koloss im Wohnzimmer meiner Eltern. Damals konnte ich dessen Deckel kaum heben. Das mit Schellack lackierte Holz leuchtete so hell und dunkel wie die Töne, die ich darauf spielte. Meine Hände waren noch klein, weshalb ich mit meinen Fingern immer nur eine Taste drückte – ich nahm abwechselnd weiße und schwarze.

Später kam der Unterricht mit Notenheften und Fingerübungen. Ich lernte, Musik zu spielen, die sich jemand anderer ausgedacht hatte. Zwischen Pflicht und Ehrgeiz wurde sie leiser. Manchmal auch laut, wenn es nicht so klang, wie ich wollte. Ich übte. Dann hörte ich wieder auf. Dann doch wieder weiter.

Später wurde Musik etwas, das ich mitnehmen konnte. In Taschen, Koffern oder auf dem Rücken. Sie war nicht mehr an einen Ort gebunden. In neuen Städten fand sie ihren Platz – manchmal zufällig, in einer WG-Küche oder bei jemandem, der eine Gitarre herumliegen hatte. Nicht alles klang gut, aber das spielte keine Rolle. Es war da, und das reichte.

Heute sitze ich in meinem Wohnzimmer und lege meine Finger auf die Tasten meines Klaviers. Es ist klein, steht dem Flügel aber in nichts nach.

Ich spiele oft, ohne Plan und ohne Noten. Ich spiele, was kommt. Manchmal nur ein paar Töne, manchmal eine Melodie. Es geht nicht darum, wie es klingt. Es geht darum, dass es da ist.

In diesen Momenten ordnet sich etwas. Gedanken, die vorher keinen Platz hatten, finden eine Linie. Dinge, die sich verhakt haben, lösen sich.

Die Musik hat mich nie groß angekündigt begleitet. Sie war kein Wegweiser, eher ein Schatten neben mir. Manchmal voraus, manchmal hinter mir. Aber immer dabei. Nicht laut. Aber verlässlich.

Und wenn ich heute spiele – in einem stillen Raum, in dem nichts erwartet wird – weiß ich, dass sie geblieben ist. Sie wohnt hier. Zwischen den Tasten. Und irgendwo in mir.