von Sebastian Körner
Als er am nächsten Tag wieder zur Praxis des Psychologen ging, musste dieser noch etwas mit seiner Assistentin besprechen. Joachim sollte bereits im Zimmer warten. Dort wollte er sich gerade auf den gemütlichen Sessel setzen, da fiel ihm ein Buch auf dem Tisch ins Auge. Verdrängte Erinnerungen: Wie unser Unterbewusstsein vergessene Erlebnisse rekonstruiert, war darauf zu lesen. Er schlug es interessiert auf und sah, dass es sich um die Habilitation Prof. Demoveos handelte.
Da kam dieser auch schon zu ihm und signalisierte ihm, sich zu setzen. „Können Sie mir irgendwelche Medikamente verschreiben, Prof. Dr. Demoveo?“, wollte Joachim wissen. Sein Gegenüber erwiderte abfällig: „Ich behandle doch nicht nur Symptome. Nein, wir werden der Quelle Ihrer Träume auf die Spur kommen, Joachim. Erzählen Sie mir von Ihrem Sozialleben in der anderen Welt.“ – „Wenn Sie meinen. Ich glaube, mit Bilal, Anabel und Ruben bin ich recht gut befreundet. Sie haben sich zumindest um mich gesorgt, das fand ich schön. Und dann habe ich mich mit Kaja getroffen. Ich habe mich in sie verliebt, und sie mag mich auch, glaube ich.“ – „Diese Liebe, wie fühlt sie sich an?“ – „Es ist ein berauschendes Gefühl. Und … es fühlt sich irgendwie realer an als die Realität.“ – „Bemerkenswert.“ – Und da ist noch etwas. Ich habe im letzten Traum das erste Mal an die wirkliche Welt gedacht. Aber sie kam mir wie ein Traum vor, aus dem ich erwachen muss. Wie kann das sein? Und wieso heißt Ihre Assistentin auch Anabel?“
Prof. Demoveo lehnte sich in seinem Sessel zurück und schwieg mehrere Minuten lang. Dann begann er, andächtig zu sprechen: „Ich halte es für unwahrscheinlich. Bis jetzt habe ich ehrlich gesagt auch nie daran geglaubt. Aber es gibt etwas, das wir in Fachkreisen als Riss bezeichnen.“ – „Ein Riss?“, fragte sein Patient verdattert. Er hatte keine Ahnung, was er sich darunter vorstellen sollte. „Sie haben mich richtig verstanden, Joachim Dreamer. Ein Zeitriss, oder ein Dimensionsriss. Durch diesen Riss sieht die betroffene Person im ersten Fall in eine andere Zeit, im zweiten Fall in eine andere Dimension. Und dies soll sich unter anderem in etwas äußern, das wir als Träume wahrnehmen.“ – „Und ich habe so einen Riss?“ Joachim kam sich vor, als ob er in einer Quantenphysikvorlesung des 22. Jahrhunderts säße, nicht beim Psychologen. Und er war sich sicher, dass Riss in keinem Fachkreis ein gebräuchlicher Begriff war.
Prof. Demoveo beugte sich nach vorne und meinte: „Ein Riss, wenn so etwas überhaupt existiert, wird durch ein hochenergetisches Ereignis ausgelöst. Hier stellt sich die Frage: Warum ist Ihre Rakete abgestürzt?“ – „Das konnte bis jetzt nicht festgestellt werden.“ Herausfordernd blickte ihn der Psychologe an: „Das sagen sie Ihnen?“ – „Sie meinen, dass …?“, fragte der junge Mann bestürzt, doch Demoveo unterbrach ihn. „Alle unsere Theorien führen zum Absturz der Rakete. Und die Erklärung Ihrer Träume geht über die Psyche hinaus. Sie ist ein Teil der Lösung, doch brauchen Sie die Physik, um sie zu verstehen. Sie müssen in das Labor Ihres Instituts kommen.“ – „Aber das Labor ist verschlossen und ich habe im Moment keinen Zutritt!“, protestierte Joachim. Er wollte seine Karriere auf keinen Fall aufs Spiel setzen, doch Shaun Demoveo erwiderte mit einem Zwinkern: „In dieser Welt, aber nicht in der anderen.“
© Sebastian Körner 2023-09-03