Omi war schon immer jemand, der Eigenschaften wie Starrsinn, Besserwissertum, Ignoranz, Egoismus und Eitelkeit häufig zeigte. In ihrer zweieinhalb Zimmerwohnung hing ein Bild mit dem Spruch „Ich bin schön, klug und das Beste an mir ist meine Bescheidenheit“. Sie hing es stolz in den Flur. Meine Familie wusste, wie akkurat es zutraf.
Omi war früher wirklich sehr attraktiv. Alte Schwarz-Weiß-Fotos zeigten eine schlanke Frau, stets nach der neusten Mode gekleidet, mit adretter Frisur und eleganter Haltung. Ihre Augen strahlten – häufig auch sehr schelmisch. Auf den Kopf gefallen ist sie auch nicht – und wenn, dann hat man es zumindest nicht gemerkt. Bis ins hohe Alter – in ihrem Fall 73 Jahre – schaute sie täglich und am liebsten Dokumentationen. Über das Universum und die verschiedenen Planeten, über die Erde, über Tiere, über Pflanzen, über Psychologie, über Geschichte und aktuelle Ereignisse. Insbesondere letztere liebte sie. Deswegen fragte ich häufig bei Geschichtshausaufgaben nach ihrem Fachwissen. Und jedes Mal diskutierten wir. Während eine übliche Diskussion den Austausch meist konträrer Meinungen vorsieht, meinten wir stets das Gleiche, drückten uns nur anders aus. Auf Neugierde folgte Zweifel folgte Unverständnis folgte Frustration folgte Wut folgte Verzweiflung folgte Nachdenken folgte Erkenntnis folgte Lachen. Leider nur in Geschichte. Je älter ich wurde, desto öfter sind wir aneinander geraten. Desto mehr Geheimnisse ich hüten wollte, desto aufdringlicher wurde Omi. Bis es klapperte und knallte.
Es war nach dem vierten Block Schule – vermutlich nach anderthalb Stunden Deutsch-Leistungskurs im Abitur -, als ich gegen 15.30 Uhr nach Hause kam. Wie immer hatte Omi Essen zubereitet: Königsberger Klopse. Schon als ich die Wohnungstür aufschloss, kam sie mit ihrem Festnetztelefon auf mich zu und hielt es mir vor die Nase. „Damit stimmt was nicht.“ Ich seufzte, zog Jacke und Schuhe aus, hängte erstere in den Schrank. „Guck‘ ich mir gleich nach dem Essen an. Ich möchte nur kurz ‘runterkommen. Schule war anstrengend heute.“ Wir setzten uns ins Wohnzimmer. Sie auf die Couch, ich auf den Sessel. Ich aß drei Bissen, da schob sie mir das Telefon wieder ‘rüber. „Schau’ dir das mal bitte an.“ Ich nahm noch einen Bissen. „Jetzt nicht, ok? Ich mag das beim Essen nicht. Sobald ich fertig bin, schau’ ich gleich nach, ok?“. Dann war sie sauer und schimpfte, dass ich undankbar sei und dass sie nur dieses eine Mal Hilfe wolle und ich sie ihr verweigere. Dann kam mir die Wut. Ich pfefferte mein Besteck hin, stand auf und knallte meine Zimmertür zu. Während Omi wegen irgendetwas in den Keller ging, schnappte ich mir Schlüssel und Handy und ging leise. Ich heulte. Meine beste Freundin hatte Zeit, wir spazierten im Park. Um 19 Uhr rief ich meine Mama an. Sie bot mir an, mich abzuholen oder ich solle mit dem Auto zu ihnen fahren – ich war schon 18. Ich blieb bei Omi, ich zog’s durch. Aber Königsberger Klopse esse ich seitdem nur ungern.
© Lisa-Marie Pohlmann 2022-11-29