Der Rollstuhl

Hermann Karosser

von Hermann Karosser

Story

So lange ich meine Oma kannte, ist sie meistens nur gesessen. Sie schlief im ersten Stock. Morgens kam sie mit zwei Stöcken die Treppe herunter und setzte sich in ihren Ohrensessel in der großen WohnkĂŒche neben den beiden Fenstern in Richtung Stadt. Von diesem Platz aus, den sie praktisch den ganzen Tag nie verlies, „regierte“ sie das Haus.

Sie half der Tante Anni ein bisschen beim Kochen, empfing irgendwelche Besucher und befasste sich sehr viel mit mir, indem sie mit mir Spiele spielte oder mir beim Basteln zusah. Denn der große KĂŒchentisch in diesem Raum war fĂŒr mich der geeignetste Platz im Haus fĂŒr meine BeschĂ€ftigungen. Unser gemeinsames Lieblingsspiel war „MĂŒhle“. Und wie es zwischen Großeltern und Enkeln so ĂŒblich ist, durfte ich anfangs öfter gewinnen als dem Spielverlauf eigentlich entsprach. Mit der Zeit erwarb ich aber eine solche Fertigkeit in dem Spiel, dass die Oma keine RĂŒcksicht mehr nehmen musste, denn meine ZwickmĂŒhlen waren unerbittlich.

Die HauptbeschĂ€ftigung der Großmutter aber war das Rosenkranzbeten. Fast ununterbrochen hatte sie den Rosenkranz um die Finger geschlungen und betete nach einer bestimmten Reihenfolge und Ordnung ein solches Gebet nach dem anderen, fĂŒr verstorbene Angehörige, fĂŒr die Kinder, die Enkelkinder und ich weiß nicht fĂŒr wen noch alles.

Ihre Frömmigkeit hatte allerdings auch damit zu tun, dass sie sich ihr Leben lang die SĂŒnde nicht verzieh und dafĂŒr bĂŒĂŸte, ein „illegitimes Kind“, so hieß das frĂŒher, geboren zu haben. Onkel Hans, der spĂ€tere Benediktinerpater, kam im Jahr 1901 auf die Welt, 5 Jahre vor der Eheschließung meiner Großeltern. Im Katholizismus war das damals, obwohl gar nicht selten, ein schweres Vergehen. Und fĂŒr meine Großmutter daher zeitlebens eine Belastung.

Jeden Sonntag besuchte sie so lange das irgendwie ging den Acht-Uhr- Gottesdienst in der Wallfahrtskirche. Das war immer eine Aktion, denn zu Fuß kam sie nicht dorthin und Auto hatten wir keines. Also besorgte der Großvater einen Rollstuhl. Das war so ein UngetĂŒm aus Holz und Eisen, dass es schon leer kaum in Gang zu bringen war, geschweige denn mit der schweren Großmutter.

Aber sie wurde regelmĂ€ĂŸig in den Stuhl gesetzt, mit zwei bis drei Decken ĂŒber die FĂŒĂŸe zugedeckt. DarĂŒber kam noch eine Abdeckung aus Material wie die KleppermĂ€ntel und ab ging’s. Schon die Abfahrt den kurzen, steilen Berg von der GartentĂŒr bis zum Klostertor hinunter war abenteuerlich, denn der lange Bremshebel wirkte bei weitem nicht so geschwindigkeitshemmend wie er aussah und der Schwung des letzten StĂŒckes reichte allemal, um die vielleicht achtzig Meter bis zum Kirchenportal ohne weitere Schubhilfe zurĂŒckzulegen.

Der RĂŒckweg war nicht weniger beschwerlich und nur der Zusammenarbeit von mindestens sechs starken MĂ€nnern, meist immer die gleichen KirchgĂ€nger, die ohnehin auf dem Heimweg bei uns vorbei mussten, bedurfte es, um das GefĂ€hrt mit der schwergewichtigen Großmutter den Berg hinauf zum Haus zurĂŒckzubringen.

© Hermann Karosser 2020-07-21

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