von Frederik Dressel
Ich komme aus dem Toilettenwagen und laufe beinahe in ein blutjunges Mädchen, das mir einen roten Plastikbecher in die Hand drückt. „Der Letzte.“ Spricht’s, und ist verschwunden, bevor ich sie fragen kann, wovon, und nur ihr Lächeln hängt noch in der Luft, als die blonden Haare schon längst weiter gewirbelt sind.
Ich ärgere mich, sie aus den Augen verloren zu haben, weil ich das unbestimmte Gefühl habe, dass ich sie hätte beschützen müssen, und nehme einen Schluck aus dem Becher, dessen Inhalt ein bisschen zu bitter für Weinschorle ist. Versetzt mit Kodein vielleicht? Bitterer. Mit Tilidin-Tropfen? Schon eher. Ein Opiat, ein ‘Downer’ also, aber ein angenehmer. Und so trinke ich weiter.
Stecke mir eine Zigarette an, um etwas zu haben, woran ich mich festhalten kann, und laufe auf das eigentliche Gelände zurück, den vagen Plan im Kopf, die Leute wiederzufinden, mit denen ich gekommen bin. Durchquere das Eingangstor der ehemaligen Farbenfabrik, die seit Jahrzehnten leersteht und in der seit ein paar Jahren Veranstaltungen der alternativen Szene Saarbrückens stattfinden.
Sichtbeton, so weit das Auge reicht, Treppen, die zu den ehemaligen Lagerhallen hinaufführen, die man zu ‘Floors’ umfunktioniert hat, auf denen die angesagtesten DJs der Stadt auflegen, jeder die Musik finden kann, zu der er sich vergessen will. „Urban Exploring, aber mit Musik“ hat einer das mal genannt, was am ‘Römerkastell’ passiert, und das würde ich so unterschreiben. Und um den Zusatz „und auf Drogen“ ergänzen.
Aus der Halle vor mir dröhnt ein basslastiger Beat, ich höre das Gelächter, die Rufe der Feiernden. Aber mir ist nicht nach Tanzen, und so laufe ich weiter, lasse ich mich von den Eindrücken treiben.
Große vertikale Spiegel drehen sich um mich herum in einem Wind, den ich nicht spüre, und ich erinnere mich vage, dass in der Veranstaltungsbeschreibung ein Spiegelkabinett angekündigt wurde. Blaues und weißes Neonlicht bricht sich in ihnen, taucht den rohen Beton der Wände in fließende Farben. Ich erwidere Grüße von Leuten, die ich nicht (er)kenne und bin mittlerweile doch etwas ‘drüber’. Was nur in dem Becher war? Und wieso hat sonst keiner einen roten?
Ein „Sorry“, begleitet von einem Lachen, ein Meer aus Haaren rauscht an mir vorbei, und hat sich schon zwischen Licht und Glas verloren, als ich den Geruch ihres Parfums wiedererkenne. Und beschließe, ihr diesmal zu folgen, sie zu fragen, was sie mir da eben gegeben hat. Und wie sie heißt.
Doch am Haupteingang werde ich von einem Rettungseinsatz in die Realität zurückgeholt, der dem Abend ein jähes Ende setzt. „Ist sie tot?“, fragt einer in der Menge, und „bloß bewusstlos“, glaubt ein anderer zu wissen. „Nicht mehr ansprechbar.“
Ich stelle mich auf die Zehenspitzen, um zu sehen, was da los ist, bin keinen Deut besser als die übrigen Schaulustigen. Und sehe gerade noch die blonden Locken und ein bleiches Gesicht, das von ihnen eingerahmt wird.
Dann schließen sich die Türen des Rettungswagens.
© Frederik Dressel 2022-08-24