Der Ruf der Freundschaft

Wyder Susanne

von Wyder Susanne

Story

July öffnet den Brief und liest den Zettel immer wieder ungläubig durch. Sie ist betroffen und gleichzeitig versucht sie ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten.

«Was bedeutet das?»

«Es steht da. – Ich werde die Firma verlassen.»

«Ich verstehe dich nicht. Was fehlt dir bei uns? Fühlst du dich nicht wohl?»

Er reagiert überrascht auf ihre Vermutung und schaut nachdenklich auf seine Hände: «Ich muss dem Ruf folgen.»

«Du sprichst in Rätseln», stellt July fest.

«Ich gehe davon aus, dass du über meine Vergangenheit nicht im Bilde bist. Um es kurz zu machen: Meine Mutter hat mich als Kleinkind in ihrem Alkoholrausch beinahe ertränkt. Mein Vater hat mich fortgebracht und alleine grossgezogen. Ich verdanke es verschiedensten guten Menschen, dass ich das Leben heute führen kann. Nun ist es meine Bestimmung, für andere dasselbe zu tun.»

«Und das kannst du hier nicht mehr?», entgegnet sie erstaunt.

«Mein Auftrag hier ist beendet. Ich muss weiterziehen.»

«Ein Auftrag?»

«Ich hoffe, dass ich das so offen ansprechen darf. – Die Krankheit deines Sohnes hat dich innerlich kaputt gemacht. Ich habe deinen Schmerz gespürt July. Du hast dich in die Arbeit vergraben und ich wollte dir einfach die Hand reichen. Ich wollte dir eine Stütze sein, ich wollte, dass du jemanden hast, auf den du dich verlassen kannst und ich wollte dafür sorgen, dass ihr euch als Familie nicht verliert. Vielleicht klingt das alles fremd für dich, vielleicht aber hast du meine Unterstützung wahrgenommen, das ist für mich nicht relevant. So weh es mir auch tut, so gerne ich auch bleiben würde, aber die Zeichen drängen mich, dem Ruf zu folgen.»

July spürt, dass sie Alexander nicht mehr umstimmen kann. Sie schaut ihm in die Augen und verabschiedet sich aufrichtig: «Ich danke dir für deine Freundschaft.»

Aus dem Fenster schaut sie Alexander nach, wie er Richtung Innenstadt läuft. Wie oft hatte er sich für sie interessiert und Fragen gestellt, die richtigen Worte gefunden, wenn es eigentlich gar keine richtigen Worte gab. Er hatte ihr Hoffnung geschenkt und war immer wie selbstverständlich da, wenn sie ihn brauchte – ein wahrer Freund. «Danke Alex, dass du für mich da warst.»

© Wyder Susanne 2022-08-30

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